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Lauer Abendwind zerrte an den hohen Halmen der Gräsern und trug den Duft von Wildnis mit sich. Geduldig saß Kara auf dem Ast ihres Baumes, lauschte dem rascheln der Blätter und Gesang der letzten Vögel. Sobald der Winter einbrach, würde all die Schönheit unter der dröhnenden Ruhe der Schneedecke erstickt. Ihre Ausflüge in die Wildnis würden eingeschränkt, ein weiterer Grund, die spielenden Wölfe so lange zu beobachten, wie möglich.
Im Moment balgten sich zwei graue Welpen, ihr weißes Geschwisterchen lag abseits bei der Mutter, die die Jungen aufmerksam beobachtete.
Es machte sie glücklich, diese wilden Tiere in ihrer Eleganz und Freiheit mit Kohle auf ein Rindenstück zu bannen.

"Wieder hier?" Die plötzliche Stimme zerriss die Ruhe, weder Vögel noch Wölfe ließen sich jedoch davon stören. Im Gegensatz zu Kara, die vor Schreck die Kohle fallen ließ, nur um dann selbst rückwärts vom Ast zu segeln.
Sie meinte den Aufprall, der sie aus dieser Höhe sicher schwer verletzen würde, bereits zu spüren, landete jedoch sehr weich. Als sie die Augen öffnete und unter sich sah, erkannte sie eine gigantische rosa Blüte, welche sich unter ihr geöffnet hatte und sie nicht nur gefangen, sondern auch über und über mit Pollen eingestaubt.
"Magier?" Unsicher sah sie in Richtung der Stimme. Ein junger Mann in grünem Umhang stand vor ihr, gestützt auf einen Stab, so groß wie er selbst, das Gesicht unter der Kapuze verborgen. Auf seiner Schulter wartete ein schimmernder Rabe und betrachtete die Frau aus dunklen, klugen Augen.
"Jäger?", konterte er, während er sie mit stechendem Blick musterte. Der Rabe krächzte und flatterte auf, wodurch er vollstândig vor dem Blätterdach verschwand. Eilig schüttelte Kara den Kopf, ignorierte den unsichtbaren Vogel und nickte. "Ich nicht. Aber andere aus dem Lager. Also... die meisten.", gab sie zögerlich zu. Ihr Blick wanderte wieder zu dem Wölfen. "Ich verrate niemandem etwas hiervon. Sie würden mich... auslachen. Falls sie mir überhaupt Glauben schenken."

"Hmpf.", schnaubte der Mann und hob die behandschuhte Hand. Die Blüte schrumpfte schnell unter seinem Zeichen, was Kara aufspringen ließ, bevor sie die Pflanze zerstörte. Immer noch in gelben Staub gehüllt beobachtete sie fasziniert, wie aus der fremden Blume wieder ein Gänseblümchen wurde. Aber wuchs das vorher schon in Reichweite des Baumes? "Ich weiß, dass du schweigen kannst. Ich beobachte dich schon länger." Dann deutete er mit seinem Stab auf die Wölfe. "Das ist nicht eure Beute. Keine Werwölfe. Keine Bestien. Sie sind friedlicher und klüger, als die meisten Menschen."
"Das habe ich bemerkt." Kara trat einen Schritt zurück und fing an sich den Staub von der Kleidung zu klopfen. "Ich beobachte sie einfach gerne. Aber... sind Werwölfe nicht auch Menschen? Auch wenn die Geschichten über sie schon unheimlich sind."
"Manchmal." Der Magier hob erneut die Hand. Der Staub löste sich aus Karas Kleidung, formte eine dicke Kugel und schwebte in den Wald neben ihnen. "Manchmal ist es ein Fluch, manchmal ein Geschenk." Unter der Kapuze drehte er den Kopf. "Dies sind keine Werwölfe.", erinnerte er. "Es sind Wanderwölfe. Vor dem ersten Schnee ziehen sie weiter."
Kara nickte verstehend. "Ihr scheint viel über die... Wesen zu wissen, die unsere Welt bevölkern. Stimmt es, dass Werwölfe junge Mädchen rauben und verspeisen? Und was ist mit den Nymphen? Waren sie so schön, dass die Sonne neidisch wurde und sie verbrannte? Gab es wirklich..."
Der Magier hob die Hand, worauf ihre Stimme verstummte. Überrascht tastete sie an ihren Hals, versuchte sich an einfachen Lauten, doch kein Ton drang über ihre Lippen. Nun machte der Mann ihr Angst. Wenn er sie entführen wollte, konnte sie nun nicht einmal mehr schreien.
"Du stellst viele Fragen, Kind. Wenn du Antworten möchtest musst du Ruhe finden und selbst darüber nachdenken." Dann hob er erneut die Hand und zeigte ihr drei Finger. "Du kannst dir drei Fragen aussuchen und mir bei unserem nächsten Treffen stellen. Spätestens, bis wir aufbrechen."
Kara nickte und spürte, wie ihre Stimme zurückkehrte. Wesentlich leiser und weniger aufgeregt fragte sie: "Darf ich sie bis zur Abreise denn noch beobachten? Ich störe niemanden und es wird auch niemand davon erfahren."
"Meine Erlaubnis hast du." Der Magier wandte sich ab. "Aber ich gebe dir nun eine Aufgabe, die du nie vernachlässigen darfst: schütze die alten Wesen, die älter als dein Volk sind. Vor jenen, die sie aus Unwissenheit und Gier jagen."
Kara gab ihr Versprechen stumm mit einem Nicken, während der Magier zwischen den Bäumen verschwand. Er hinterließ ihr ein leichtes Herz .

MidiaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt