Das war wahrscheinlich der schlimmste Tag meines gesamten Lebens. Ernsthaft, das meinte ich wirklich so. Vergessen waren die Dinner, bei denen ich brav zwischen meinen Eltern gesessen und die blöden Witze der alten Säcke der Upper Class über mich habe ergehen lassen. Selbst die Veranstaltungen der High Society, die in unseren Kreisen nun einmal auf dem Programm standen, an denen ich mit besagten alten Säcken tanzen musste, damit meinen Eltern das Geschäft nicht durch die Lappen ging, war nichts. Nichts gegen die Demütigung, die ich in den Räumen empfand, die ich mein Zuhause nannte.
William hatte sich hier eingenistet und ich wusste, dass ich die Erinnerung an ihn nun auf ewig mit unserem Penthouse verbinden würde. Schöne Scheiße. Vielleicht war der geplante Umzug in Beths Wohnung in Manhattanville doch eine gute Idee. Würde es nicht gleichzeitig bedeuten, dass sie und William eine eigene Wohnung bezogen. Doppel-Scheiße.
Ich musste mich wirklich zusammenreißen, dass ich nicht auf der Stelle aufsprang und mich in meinem Zimmer verschanzte, bis es vorbei war. Leider war das nur ein trügerischer Wunschtraum, der nicht in Erfüllung gehen würde, wenn ich keine heiklen Fragen riskieren wollte. Hilary und John anzulügen war leicht, ich hatte es über die Jahre hinweg perfektioniert. Doch Beth konnte ich beim besten Willen nicht belügen. Nicht, wenn sie der einzige Mensch war, der immer zu mir gehalten hatte, selbst wenn sich die ganze Welt gegen mich gewandt hatte.
Wenn sie mich nach dem Grund für meine Zerstreutheit fragte, musste ich mir etwas einfallen lassen. Eine plausible Erklärung, die sie befriedigte und nicht weiter nachbohren ließ. Ich musste auch an ihre Gesundheit denken. Ich wollte jedenfalls nicht der Grund für eine Attacke sein, bei der sie kaum noch Luft bekam und im schlimmsten Fall sogar im Krankenhaus landete.
Es tat mir leid, wie sehr sie versuchte, die Stimmung zwischen uns vier zu kitten, wo unsere Eltern und Mr. Rodriguez damit beschäftigt waren übers Geschäft zu fachsimpeln.
Mit Heather verstand ich mich erstaunlich gut, doch sobald ihr Bruder das Wort ergriff, stieß er bei mir auf kategorischen Trotz. Heather dachte vermutlich, ich litt unter Stimmungsschwankungen. Je fröhlicher ich mich gab, desto genervter war ich, wenn William etwas zur Konversation beisteuerte und mit Beth lachte. Es waren Wut und Enttäuschung, die dieses idyllische Familienbild in mir auslöste. Obgleich ich sah, wie sehr es ihn quälte nicht unter vier Augen mit mir sprechen zu können, um diese Odyssee zu klären und zu bereden, wie wir damit in Zukunft umgehen wollten. In Zukunft. Weil es mit diesem einen Dinner nicht getan war. Danach folgten weitere Familientreffen, Veranstaltungen, bei denen man sich zusammen sehen lassen musste, die Hochzeit ...
Wenn ich einem ruhigen Gespräch unter vier Augen zustimmen würde, würde das bedeuten, dass ich ihm verzieh? Ich wusste nicht, ob ich das wollte. Ich wusste nicht, was ich überhaupt wollte.
Ich will nicht, dass er und Beth heiraten.
Der Gedanke war da, ohne, dass ich etwas dagegen unternehmen konnte, und ich schämte mich dafür. Beths Glück war schon immer meine oberste Priorität gewesen, jedenfalls hatte ich das bislang immer geglaubt. Sie war glücklich, wenn sie mit William zusammen war und so lachte wie jetzt.
Bei dem Laut, der ihm entfuhr, verspürte ich ein wehmütiges Ziehen.
Ich musste mich schützen. Mich und mein Herz, das zu schnell und zu laut schlug und zu sehr schmerzte.
Ihm eine Szene zu machen, würde kaum etwas bringen, damit ich mich besser fühlte. Also entschied ich mich für die nächstbeste Option: Ignorieren und aus dem Weg gehen. Ich würde seine Nummer aus meinem Handy löschen, den »Ritter in glänzender Rüstung«, und seinen Namen aus meinem Kopf verbannen. Grayson war in dieser Sekunde für mich gestorben.
Er war ein guter Schauspieler, aber ich hatte jahrelange Übung darin, die Absichten meiner Mitmenschen zu erkennen, ehe es zu spät war. Natürlich hatte ich das erst in England gelernt. Umso mehr ärgerte es mich, dass mich dieser sechste Sinn in Williams Anwesenheit offenbar im Stich gelassen hatte.
Ich tat mein Bestes unbekümmert zu wirken.
Mein Bestes zu geben, war offenbar nicht genug, denn bisweilen unterzog mich meine Schwester einer kurzen Musterung.
Alles in Ordnung mit dir? schienen ihre Augen zu fragen und ich lächelte beschwichtigend. Alles in Ordnung, antwortete ich ihr im Stillen und schalt mich gleichzeitig eine Lügnerin.
Leise fischte ich mein Smartphone aus der Hosentasche und prüfte die Uhrzeit, nur um enttäuscht festzustellen, dass der schlimmste Abend meines Lebens noch lange nicht vorbei war.
Als die Sprache schließlich auf Start-Ups und meine glanzlose Trennung kam, blockte ich komplett ab. Über Matt war ich hinweg, aber so lieferte ich ihr immerhin einen Grund dafür, dass ich so schlecht gelaunt war. Dass ich von Start-ups gesprochen hatte, stimmte. Wegen Grayson, der eigentlich William hieß. Jetzt kam ich mir idiotisch vor. War ich wirklich so einfach gestrickt, dass ich so ein plötzliches Interesse in Start-Ups entwickelte, weil Grayson – nein – William sich dafür interessierte und so leidenschaftlich davon gesprochen hatte, sodass er mich mit seiner Euphorie gleich angesteckt hatte?
»Das wäre wundervoll«, schaffte ich dennoch auf Heathers Vorschlag hin, William bei seiner Arbeit zu begleiten, zu beteuern. Der Drang, ihm den Hals umzudrehen, wurde übermächtig. In Wahrheit musste ich machtlos mit ansehen, wie alles den Bach herunterging.
»Das wird William sicher gerne machen. Schließlich sind wir ja bald Familie. Oder William?« Ich wusste nicht wie, aber Mrs Cavendish – Jessica, wie wir sie nun nennen sollten – hatte den letzten Rest unserer Unterhaltung mitverfolgt.
Ihre Halsader pochte und ich versuchte mir zu merken, dass man sich in diesem Fall besser nicht mit ihr anlegte. Denn auch William tat es nicht, obwohl seine Kiefer mahlten.
»Sicher ...« Beth grinste wie ein Honigkuchenpferd. Wenn sie wüsste. Wenn sie verdammt nochmal wüsste.
»Das wird sicher super werden«, strahlte sie.
»Super«, echote ich.
Ich spürte seine grünen Augen nur allzu deutlich auf mir. Die feine Gänsehaut auf meinen nackten Armen sprach für sich. Ein schmales Lächeln stahl sich auf meine Lippen und ich wollte weinen.
Was sollte jetzt noch schiefgehen?
DU LIEST GERADE
Me Because Of You
Teen Fiction»Soll ich wieder gehen? Ich kann draußen warten. Oder unten. Wenn dir das lieber ist.« »Das ist ja das Problem! Ich will nicht, dass du gehst.« Julia Wentworth hatte nicht vor, sich zu verlieben, als sie nach drei Jahren Studium in Oxford an New Yor...