Wie in Trance lief ich durch scheinbar endlose Gänge. Die holzvertäfelten Wände glänzten golden im Licht der untergehenden Sonne. Meine Schritte hallten von dem glattpolierten Marmorboden wider und eine Tür reihte sich an die nächste. Obwohl die Luft stickig und warm war, durchfuhr mich ein eisiger Schauer. Ich fühlte mich fehl am Platz. In diesem verfluchten Hotel, in New York, sogar in meiner eigenen Haut. Ich konnte dieses heuchlerische Spiel, das mir diese Rolle zugeschrieben hatte, nicht länger mitspielen. Das war nicht ich. Ich war so nicht.
Das Pochen hinter meinen Schläfen wurde immer stärker und ich versuchte es zu ignorieren. Das Blut pulsierte in meinen Ohren und flüsterte mir fürchterliche Dinge zu, die ich nicht hören wollte, aber allem Anschein nach hören musste. Du bist eine Verräterin. Du hast deine eigene Schwester verraten. Wenn Beth jemals hinter die Wahrheit kam, würde sie mir das niemals verzeihen.
Der Flur machte eine Biegung und ich landete im Foyer. Die Eingangshalle war eine trostlose Aneinanderreihung von glänzendem Marmor und mächtigen mit Sandstein verkleideten Pfeilern. Die menschengroßen Pflanzen, die man sporadisch in der Lobby verteilt hatte, machten es auch nicht viel besser. Ich hatte dieses Hotel schon immer gehasst. Jetzt hasste ich es sogar noch mehr.
Der Rezeptionist nickte mir freundlich zu, während er zeitgleich eine Frau mit zwei großen Koffern eincheckte, doch ich konnte das Lächeln nicht erwidern.
In diesem Moment hatte ich nur ein Ziel vor Augen.
Weg. Einfach weg.
Vorbei an der Rezeption, zu den silbernen Aufzügen. Auf meinem Weg begegneten mir immer mehr Menschen. Hotelgäste, Personal, Kaufmänner und Frauen in anmutigen Kleidern, mit hochgesteckten Frisuren und Schmuck, der so viel kostete, wie eine Familie in New York in einem Jahr nicht ausgeben konnte. Ihre Gesichter verschwammen zu einer undurchdringlichen grauen Masse. Frustriert rieb ich mir über die Augen, gleichgültig, ob ich damit die Wimperntusche, die ich am Morgen so sorgfältig aufgetragen hatte, verschmierte. Ich hatte andere Sorgen. Eindeutig größere Sorgen.
Mit zitternden Händen wartete ich darauf, dass sich die Aufzugtüren öffneten.
Während der Fahrt nach oben lehnte ich die Stirn an die kalte Scheibe und versuchte meine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Ich wusste nicht, wie ich in diese Situation gelangt war. Ob es Schicksal gewesen war, dass ich ihm so oft wie zufällig über den Weg laufen musste oder einfach nur ein verdammt schlechter Scherz. Zu leugnen, dass ich nicht wusste, was dieses Gefühl bedeutete, war sinnlos.
Ich musste weg. Weg von den weißen Rüschen und roten Rosen und albernem Gekicher. Weg von den Leuten, die lächelten und ihre Glückwünsche aussprachen und noch mehr lächelten, weil sie nicht wussten, was sie sagen sollten. Sie lächelten immer, selbst wenn sie es eigentlich gar nicht wollten. So war das an der Upper East Side. Hier tat man so einiges, was man eigentlich gar nicht wollte. Lächeln, nicken ... heiraten.
Und genau davon musste ich weg. Weg von all dem Mist, der Verlogenheit und falschen Freunden.
Und weg von ihm. Hauptsache weg von ihm.
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Me Because Of You
Teen Fiction»Soll ich wieder gehen? Ich kann draußen warten. Oder unten. Wenn dir das lieber ist.« »Das ist ja das Problem! Ich will nicht, dass du gehst.« Julia Wentworth hatte nicht vor, sich zu verlieben, als sie nach drei Jahren Studium in Oxford an New Yor...