»Verdammte Scheiße!« Fluchend warf ich einen hastigen Blick auf die andere Straßenseite. So ein verdammter Drecksmist. Der Kerl mit dem schwarzen Hoodie war immer noch da und verschmolz mit den Schatten, die ihre langfingrigen Klauen bereits in meine Richtung ausgestreckt hatten. Die Reflektion seiner Brillengläser verrieten ihn. Die Sonnenbrille war es außerdem gewesen, die mich misstrauisch gemacht hatte. Das und der Piercing in seiner rechten Augenbraue, der den Mann irgendwie gefährlich wirken ließ.
Es war weit nach Mitternacht und obwohl in der Stadt, die niemals schläft, immer irgendwo ein Licht brannte, rechtfertigte es nicht das Tragen einer gefälschten Ray-Ban. Ich hatte ein Auge für Fälschungen. Mein unerkanntes Talent würde mir nur leider nichts mehr bringen, wenn ich in zehn Minuten tot war.
Ohne auf den Schmerz in meinem Fuß zu achten, lief ich weiter. Mein Herz wummerte gegen meine Rippen, zu schnell, viel zu schnell. Wenn ich wenigstens nicht die Einzige gewesen wäre, die zu später Stunde durch Manhattan lief, aber nein. Jeder verdammte Mensch schien heute besonders früh zu Bett gegangen zu sein oder trieb sich immer noch in einem der angesagten Clubs herum, um zu feiern und sich die Kante zu geben. Kurzum: Ich war geliefert.
Zwei Blocks entfernt war eine der belebteren Gegenden, in der ich mich vor einer knappen halben Stunde ebenfalls noch aufgehalten und munter einen Drink nach dem anderen in mich hinein gekippt hatte. Jetzt wurde mir mein »Ich-trinke-mir-die-Welt-schön«-Verhalten zum Verhängnis. Wie konnte man nur so blöd sein? Zu allem Überfluss hatte ich ebenfalls vergessen mein Smartphone zu laden, sodass es schon nach zwei Stunden den Geist aufgegeben hatte und nun stumm in meiner Handtasche steckte, die ich an die Brust presste, als wäre sie mein Rettungsring, der mich vor dem sicheren Ertrinken bewahrte.
Meine Schritte wurden schneller. Die meines Verfolgers leider auch. Und er kam näher.
Angefangen hatte das merkwürdige Gefühl beobachtet zu werden schon vor ein paar Stunden. Nylah hatte uns an einer ellenlangen Schlange vorbeigeschleust und dem Türsteher keck zugezwinkert. Der hatte uns natürlich erkannt und die billige goldglänzende Kette geöffnet. Da hatte mein Magen zum ersten Mal gezwickt. Naiv wie ich war, hatte ich das Rumoren auf die Umstehenden geschoben, die ihre Smartphones vor unsere Gesichter hielten und zu tuscheln begannen. Dass man mich - oder in diesem Fall Nylah - erkannte, war nichts Neues. Ihre blonde Lockenmähne fiel überall auf und seit sie mindestens einmal im Monat das Cover irgendeiner Boulevardzeitung zierte, konnte sie ihre Wohnung ohne Schutzpersonal kaum mehr verlassen.
Es gab genügend Mittel und Wege in der Masse New Yorks unerkannt zu bleiben, aber an diesem Abend war das eher hinderlich. Wir wollten erkannt werden, denn das war nun einmal der schnellste Weg, um in Clubs zu kommen. Und es hatte einwandfrei funktioniert, so wie immer. Mein Magen hatte dabei aber noch nie protestiert.
Ich sah die Schlagzeilen vor meinem inneren Auge aufblitzen: »Julia Wentworth, Tochter der A.I.Technologies Gründer, tot aufgefunden.« Ganz super.
Ich brauchte ein Taxi. Zähneknirschend ignorierte ich den Schauer, der mich durchlief. Wo waren nur all die Taxis hin, die sich sonst immer auf den Straßen herumtrieben? Manhattan galt im Vergleich zu anderen Bezirken eigentlich als sicher. Zumindest in der Theorie.
Nylah hatte mich gewarnt. Sogar mehr als einmal und ich biss mir auf die Zunge, weil ich so leichtsinnig gewesen war und nicht auf sie gehört hatte.
»Warum zur Hölle hast du denn einen Chauffeur, wenn er dich nie irgendwo hinfahren oder abholen soll? Wo ist da bitte der Sinn?« Sie hatte theatralisch die Augen verdreht. Tja, mein Chauffeur - oder wie ich ihn nannte: mein Babysitter - hatte heute frei. Ich selbst hatte ihn dazu verdonnert, weil er mir seit meiner Rückkehr nicht von der Seite wich. Aus Sicherheitsgründen, sagten meine Eltern. Aus Kontrollgründen, befand ich.
»Nimm dir wenigstens ein paar andere Schuhe mit. In den Latschen hältst du nicht einmal eine Stunde aus«, hatte Nylah mir überdies geraten und wieder einmal Recht behalten. Die hohen schmalen Absätze der High Heels, die ich mir erst letzte Woche zugelegt hatte, hatten dazu geführt, dass ich beim Seitenwechsel am Bordstein hängen geblieben und umgeknickt war. Der Schmerz pochte mit jedem Schritt stärker durch meinen Knöchel, aber ich konnte nicht anhalten. Ich durfte nicht anhalten.
Ein weiterer Blick über die Schulter bestätigte mir nämlich, was ich bereits befürchtet hatte. Der Typ im schwarzen Hoodie aka mein potenzieller Mörder war nur noch knappe zwanzig Meter hinter mir. Ich konnte den Piercing in seiner Augenbraue aufblitzen sehen. Mit dem Fuß war ich ein verdammt leichtes Opfer. Und ich blöde Kuh machte es ihm sogar noch leichter, indem ich versuchte, vor ihm wegzurennen und mich dabei bis zum letzten Quäntchen auspowerte. Das Blut rauschte in meinen Ohren und ich zwang mich weiterzulaufen.
Innerlich begann ich mit meinem Leben abzuschließen. Wer würde mir ohnehin beistehen, wenn ich um Hilfe schrie? Richtig: Niemand. In New York wurde ständig jemand umgebracht, und so traurig es auch war, das war eines der vielen Alleinstellungsmerkmale, die diese stinkende Stadt zu bieten hatte. Niemand würde sich freiwillig vors Messer werfen, um Teil dieser unbeliebten Liste zu werden. Vielleicht würde man nicht einmal die Polizei rufen, sich kurz über den Lärm beschweren und dann so tun, als wäre nie etwas gewesen.
Nylah würde die Michael Kors Tasche und das Louis Vuitton Oberteil bekommen, das sie sich so oft von mir ausborgte und meine Eltern könnten mit meiner Geldanlage den Anbau für ihre Firma finanzieren – obwohl sie auf mein Erspartes natürlich nicht im Geringsten angewiesen waren.
Und den Rest konnte Beth haben.
Ich knickte erneut um und fluchte lauthals. Wenn ich eines in New York gelernt hatte, dann war es das Fluchen. Der britische Akzent, den ich mir in den letzten Jahren angeeignet hatte, schlug trotzdem durch. Mein Herz zog sich wehmütig zusammen. England, ich werde dich vermissen.
Ich fiel in einen Laufschritt, was mir mit dem Fuß nicht sonderlich viel brachte. Der Knöchelumfang hatte sich bereits verdoppelt und das schwarze Band der High Heels schnitt mir fürchterlich in die Haut. Anzuhalten und die Schuhe auszuziehen, traute ich mich nicht. So lange wie ich brauchte, die Bänder zu lösen, könnte ich mich auch direkt ergeben. Aber das stand erst recht nicht zur Debatte.
Das Adrenalin pumpte durch meine Adern. Ich fühlte mich wie auf Ecstasy oder irgendeiner anderen Partydroge, von denen ich laut meiner Eltern absolut gar nichts wissen dürfte, nur dass sich kein euphorisches Gefühl in mir ausbreitete. Stattdessen rebellierte mein Inneres, als wollte es Frühstück, Lunch und Dinner gleichzeitig durch die Speiseröhre hinausbefördern.
Die Neonleuchte eines Technikgeschäfts flackerte, auf der anderen Straßenseite prügelten sich zwei Tauben um ein Stück Brot. Die Bäume des Central Parks ragten dunkel und unheilvoll in die schwarze Nacht hinein. In meiner Panik bekamen sie plötzlich Gesichter. Mitleidvolle Mienen, traurige Gesichter, ein hämisches Funkeln.
Blindlings rannte ich um die Ecke ... und knallte auf den Boden. Meine Handflächen und Knie waren aufgeschürft. Mein rotes Lieblingskleid sog sich mit einer Flüssigkeit voll - von der ich inständig hoffte, dass es nur Wasser war - und zog mich zu Boden. Vor mir erhob sich ein mindestens zwei Meter großer Mann, der düster auf mich herabstarrte. Ein Augenbrauenpiercing blitzte auf und ein kaum wahrnehmbares Lächeln erschien auf den markanten Gesichtszügen. Ich zitterte stärker. Doppel-Scheiße.
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Me Because Of You
Ficção Adolescente»Soll ich wieder gehen? Ich kann draußen warten. Oder unten. Wenn dir das lieber ist.« »Das ist ja das Problem! Ich will nicht, dass du gehst.« Julia Wentworth hatte nicht vor, sich zu verlieben, als sie nach drei Jahren Studium in Oxford an New Yor...