Ich passte mich ihrem Schritttempo an, das ungefähr dem einer Schnecke entsprach. Ich hätte ihr meinen Arm angeboten, wenn sie nicht so vehement einen Sicherheitsabstand zwischen uns aufrechterhalten hätte. Vermutlich war das keine schlechte Idee.
Meine Lippe pochte an der Stelle, wo sie mich gebissen hatte und ich wusste immer noch nicht so ganz, ob das wirklich passiert war oder ob ich das alles nur träumte. Die letzten Minuten kamen mir surreal vor.
»Ich bin übrigens Julia«, sprach Bambi in die unangenehme Stille hinein.
»Grayson«, entschied ich, mich mit meinem Zweitnamen vorzustellen. Bei William dachte ich gleich an meinen Vater und der war so ungefähr die letzte Person, an die ich gerne dachte. Außerdem klang William ziemlich versnobt.
»Grayson ...« Die Art wie sie meinen Namen aussprach, schickte eine unerwartete Gänsehaut über meinen Nacken.
»Und warum bist du so spät noch unterwegs?«, fragte sie zögerlich und ich belächelte ihren Versuch die peinliche Situation mit ungezwungenem Smalltalk zu überspielen. Nur weil ich selbst die Stille hasste, ging ich überhaupt erst darauf ein.
»Ich hab mich mit einem Freund getroffen. Zumindest war das der Plan, bevor er mich versetzt hat.« Julia verzog das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse.
»Hatte er wenigstens eine gute Entschuldigung?«
»Mehr oder weniger«, wiegelte ich ab, »Eigentlich wollte er sich bei mir über seinen Ex beschweren, der dann allerdings doch nicht mehr sein Ex war. Das war zumindest der Stand von vor drei Stunden. Vermutlich ist er jetzt wieder single«, versuchte ich Davids On-Off-Beziehung zu Luis kurz zusammenzufassen. Julia kicherte glucksend und ein Lächeln zupfte an meinen Mundwinkeln.
»So jemanden kenne ich auch. Meine beste Freundin«, erläuterte sie, »Sie hat auch alle paar Wochen jemand Neuen. Ich komm schon gar nicht mehr hinterher, mit wem sie jetzt zusammen ist. Gestern Team Edward und heute Team Jacob, oder so in der Art.« Augenrollend machte sie einen vorsichtigen Schritt vom Bordstein auf die Straße. Blitzschnell schoss mein Arm nach vorne, damit sie sich festhalten konnte, falls sie das Gleichgewicht verlor. Ihr Fuß sah übel aus und sie musste höllische Schmerzen haben, dennoch verlor sie kein Wort darüber. Ich sah lediglich, wie sich ihre Kiefer anspannten. Unsere Arme berührten sich flüchtig und Julia senkte den Blick verlegen. Ihre Wangen hatten einen leichten Rotschimmer angenommen, aber das konnte natürlich auch an dem liegen, was sie eben erlebt hatte.
»Das mit Luis geht schon etwas länger. David hat ihn letztes Jahr auf einer Party kennengelernt und leider bin ich daran nicht ganz unschuldig. Ich hab ihn dazu gezwungen, mich zu begleiten.«
»Und du magst ihn nicht«, sagte sie. Es war eine Feststellung, keine Frage. Ich war überrascht, dass sie es herausgehört hatte, obwohl ich mir größte Mühe gegeben hatte, neutral zu klingen. Oder vielleicht auch nicht.
»Nein, ich mag ihn nicht besonders«, bestätigte ich und weil ich glaubte, dass ich mich erklären müsste, fügte ich hinzu: »Er passt einfach nicht zu ihm. Sie sind zwei völlig verschiedene Menschen, die komplett gegensätzliche Sachen mögen.«
»Gegensätze ziehen sich an«, meinte Julia schulterzuckend.
»Oder in dem Fall aus.«
Sie warf den Kopf zurück und lachte schallend.
»Oder das«, kicherte sie und ich grinste zurück.
»Wir sind da«, sagte ich in dem Moment. Das Neonschild, das auf die Taxizentrale aufmerksam machte, leuchtete wie eine Stroboskoplampe. Da wurde mir bereits klar, dass es ein Problem gab. Der Laden war zwar hell erleuchtet, doch die Parkplätze davor waren allesamt leer. Julia knirschte frustriert mit den Zähnen.
»So ein Mist.«
»Gehen wir rein und fragen nach, wann das nächste Taxi frei ist«, schlug ich vor und Julia humpelte mir hinterher. Meinen Arm wollte sie nicht annehmen. Ob aus Scham, weil sie mich – oder ich sie? - vorhin geküsst hatte oder einfach, weil sie zu stolz war, Hilfe anzunehmen, wusste ich nicht, aber ich tippte auf Letzteres.
Die Türen öffneten sich quietschend, gleißendes Licht empfing uns. Blinzelnd gewöhnten sich meine Augen langsam an die neuen Lichtverhältnisse. Der Raum maß vielleicht vier Quadratmeter, wovon drei Viertel von einem hölzernen Tresen eingenommen wurde, hinter dem ein teilnahmslos wirkender älterer Mann saß. Das dünne helle Haar ließ eine baldige Glatze erahnen.
Julia versuchte sich so weit wie möglich von mir weg zu lehnen, aber da der Raum kaum Platz für eine Person ließ, berührten sich unsere Körper, als würden wir eng umschlungen auf der Tanzfläche stehen. Fuck. Ich wusste zwar nicht, was genau dieser Gedanke mit mir machte, aber ich wusste, dass mir das Gefühl ganz und gar nicht gefiel.
Ihre Hand lag auf meinem Oberarm und sie entlastete den malträtierten Fuß. Sie sah fertig aus. Ihr Kleid war an einer Seite komplett durchnässt und wirkte fast schwarz. Die dunklen Haare hingen in nassen Strähnen knapp über ihrer Schulter. Der rechte Knöchel war auf das Doppelte angeschwollen und ein Absatz baumelte nur noch lose vom Rest des Schuhs. Ihre Knie waren aufgeschürft und um ihr Handgelenk kamen blaue Spuren zum Vorschein. Das war die Stelle, an der ihr Verfolger zugepackt hatte.
Eine unbändige Wut machte sich in mir breit. Ich hätte den Mistkerl verprügeln sollen, als ich die Chance dazu gehabt hatte. Gleichzeitig wurde mir schlecht. Wenn ich diesem Typ mit dieser Scheiß-Narbe, diesem scheiß-verschlagenen Gesichtsausdruck und dem Scheiß-Augenbrauenpiercing noch einmal in meinem Leben über den Weg lief ...
Julia räusperte sich. Der Mann mit dem schütteren Haar, hob den Blick kurz von seiner Zeitschrift, auf der das Gesicht einer jungen Frau mit wilder Lockenmähne abgedruckt war. Sein Namensschild wies ihn als Chuck aus.
»Wir sind voll«, brummte er unbeteiligt und widmete sich wieder seiner Zeitung. Dabei kaute er geräuschvoll auf einem Kaugummi. Aus den Augenwinkeln sah ich wie Julia sich argwöhnisch umsah. An der gegenüberliegenden Wand hingen Poster mit freizügig bekleideten Frauen und auf dem kleinen Beistelltisch stand ein Aschenbecher, der allem Anschein nach häufig gebraucht wurde. Ein unangenehmer Geruch stieg von den teilweise noch qualmenden Zigarettenstummeln auf und Julia rümpfte die Nase.
»Wann ist das nächste Taxi frei?«, erkundigte ich mich knurrend. Ich wollte nicht mehr Zeit in diesem Schuppen verbringen als unbedingt notwendig.
Chuck atmete schwer auf, drehte sein Handgelenk, das mit einer goldenen und überdies schlecht gefälschten Rolex geschmückt war und schmatzte.
»So in 'ner Stunde. Vielleicht auch zwei. Viel zu tun.«
So entspannt wie er die Füße hochlegte und in dem Klatschmagazin blätterte, konnte ich das schwer glauben. Julia seufzte und kramte in ihrer Handtasche.
»Machen Sie eine halbe Stunde draus«, forderte sie und zückte einen Hundert-Dollar-Schein.
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Me Because Of You
Teen Fiction»Soll ich wieder gehen? Ich kann draußen warten. Oder unten. Wenn dir das lieber ist.« »Das ist ja das Problem! Ich will nicht, dass du gehst.« Julia Wentworth hatte nicht vor, sich zu verlieben, als sie nach drei Jahren Studium in Oxford an New Yor...