Die Stunden, die ich mit Grayson spazierend durch den Central Park verbrachte, gehörten zu den schönsten Stunden seit Langem. Trotz der Geschichte mit Narbengesicht. Kaum zu glauben, dass ich ihm erst vor wenigen Stunden wieder begegnet war. Es fühlte sich an wie ein anderes Leben. Oder zumindest weit entfernt. Mit Grayson an meiner Seite fühlte sich einfach alles weit entfernt an. Alle Probleme, die ich hatte, der Stress, den mir der Wechsel an die Columbia jetzt schon machte und die Sorge, dass sich Beth in eine ausweglose Katastrophe befördert hatte, verschwanden, wenn ich mit ihm über Gott und die Welt philosophierte.
»Zuhause bekomme ich einfach keine Ruhe. Selbst wenn meine Eltern nicht da sind - und das sind sie eigentlich meistens. Irgendwas ist einfach immer. Mal ist es meine Schwester, mal ein Unfall auf der Straße oder eine Baustelle«, plauderte ich in diesem Moment munter aus meinem alltäglichen Leben. Grayson hing an meinen Lippen, als wäre ich die Präsidentin der Vereinigten Staaten und hielt gerade meine Rede zur Amtseinführung. Dabei war es wirklich nichts Besonderes, es war einfach ... mein Leben.
»Na ja, deswegen setze ich mich gerne in den Central Park, wenn ich Zeit habe«, schloss ich lahm.
»In den Central Park?«, fragte er skeptisch und ich musste über seine übertriebene Reaktion lächeln.
»Hier finde ich jedenfalls mehr Ruhe als zuhause«, gestand ich.
»Was machst du dann? Setzt du dich einfach auf eine Bank und beobachtest die Menschen?« Seinem Tonfall zu Urteilen war er in seinem früheren Leben noch nie auf die Idee gekommen, sich einfach in den Central Park zu setzen und sich zu entspannen.
»Manchmal, ja. Aber hauptsächlich lese ich. Es gibt nichts Entspannteres, als im Sommer zwischen den Bäumen zu sitzen, das Rascheln über sich zu hören und die Leute zu beobachten, die an einem vorbeigehen oder die in der Nähe picknicken.«
Grayson blinzelte überrascht, offensichtlich hielt er mich für übergeschnappt.
»Nun guck nicht so verdattert. Das bringt einen wirklich extrem herunter. Außerdem wollte ich früher mal Literatur studieren. Und wenn ich hier sitze, ist das die einzige Möglichkeit für mich, wenigstens hin und wieder in Ruhe zu lesen.«
Etwas, was so gut wie niemand von mir wusste, und was ich nun bereitwillig mit Grayson teilte, war, dass meine Liebe für Literatur so weit ging, dass ich nach jedem Buch, das ich las und auch nach jedem Film, den ich mir anschaute, eine Rezension verfasste mit meinen tiefsten Gedanken und Empfindungen. Diese Kritiken schrieb ich nur für mich. Kein Mensch hatte sie je zu Gesicht bekommen und das sollte auch so bleiben. Für mich war es jedoch interessant zu sehen, wie sich mein Geschmack über die Jahre gewandelt hatte und wie anders manche Bücher und Filme nach Jahren auf mich wirkten.
So würde ich beispielsweise auch nach zwanzig Jahren immer noch an den gleichen Stellen von Stolz und Vorurteil anfangen zu weinen, während ich mir manche Filme, die ich früher geliebt hatte, heute nicht einmal ansehen konnte, ohne zusammenzuzucken und meine Zurechnungsfähigkeit als Teenager in Frage zu stellen. Ich hätte gerne einen Blog gehabt, auf dem ich das Alles niederschreiben könnte, aber für einen Blog, der sehr viel aufwendiger gewesen wäre als ein paar Notizen in einem zerfledderten Notizbuch, fehlte mir schlicht und einfach die Zeit.
DU LIEST GERADE
Me Because Of You
Teen Fiction»Soll ich wieder gehen? Ich kann draußen warten. Oder unten. Wenn dir das lieber ist.« »Das ist ja das Problem! Ich will nicht, dass du gehst.« Julia Wentworth hatte nicht vor, sich zu verlieben, als sie nach drei Jahren Studium in Oxford an New Yor...