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Langsam leerte sich das Rudelhaus. Leona war noch so verwirrt und unendlich müde, dass sie sofort Xena folgte, die sie zu ihrem Zimmer im Gästehaus zurückbegleitete. Nach und nach verließen auch die anderen Rudelmitglieder mit einem grüßenden Nicken an Amira und ihren Gast das Rudelhaus.

Schließlich saßen nur noch Tonya und Amira am Tisch. Obwohl Tonya müde war und liebend gerne schlafen gegangen wäre, wollte sie noch mit der Alpha-Wölfin reden. Letztendlich hatte sie sich ja auf den Weg zu dem Wölfinnenrudel gemacht, um hier bequemer den Winter verbringen zu können. Auch Amira schien noch mit ihr reden zu wollen. Warum sonst würde auch sie noch am Tisch sitzen?

Tonya wartete höflich und beobachtete dabei heimlich Amira, die nachdenklich ihren Becher auf dem Tisch drehte. Schließlich nahm sie ihn auf, trank in aus und füllte ihn erneut.

„Alpha Hendrik hätte dich auch ablehnen sollen, stimmt das?", fragte sie dann.

Tonya lächelte. „So wollte es der alte Alpha", erwiderte sie spöttisch.

„Und Hendrik?", wollte Amira neugierig wissen.

„Hatte keine Gelegenheit, dem Befehl seines Vaters zu gehorchen", grinste Tonya und Amira lachte.

„Und was hast du jetzt vor?", fragte sie dann lauernd.

„Ich weiß es noch nicht", antwortete Tonya ehrlich.

„Ich habe gehört, dass du sehr gut kämpfen kannst", bemerkte Amira und nun war sie es, die Tonya aufmerksam beobachtete. „Wir könnten gute Kämpferinnen in unserem Rudel gebrauchen."

Lächelnd schüttelte Tonya den Kopf. „Ich weiß wirklich noch nicht sicher, wohin mich mein Weg zukünftig führen wird, aber eines ist sicher, ich werde mich vorerst jedenfalls keinem Rudel anschließen." Tonya blickte Amira offen in die Augen. „Du brauchst keine Sorge zu haben. Ich habe nicht die Absicht, dir deinen Posten als Alpha-Wölfin streitig zu machen. Ich werde mich dir aber auch nicht unterwerfen."

„Wie stellst du dir das dann vor?"

„Ich würde mich freuen, so lange bei dir Gast sein zu dürfen, bis ich mich entschieden habe", antwortete Tonya ernst.

„Ich werde dir gerne Gastfreundschaft gewähren. Wenn es nur für ein paar Tage ist, habe ich damit keine Probleme. Sollte es aber für länger sein, erwarte ich, dass du mich als Alpha-Wölfin anerkennst."

„Ich bin keine Gefahr für dich, Amira", erwiderte Tonya sanft. „Ich akzeptiere dich als Rudelführerin und werde mich anpassen oder gehen, wenn irgendetwas so läuft, dass ich es nicht akzeptieren kann. Solange ich hier bin, möchte ich aber nicht einfach nur untätig herumsitzen, sondern meinen Teil zum Schutz des Rudels beitragen und vielleicht Wache stehen. Doch ich werde keine Befehle entgegennehmen. Wir reden miteinander, auf Augenhöhe. Wenn du damit einverstanden bist, dürfte es keine Probleme geben. Wir können es ja auf dieser Basis miteinander versuchen, sagen wir mal – für die Dauer einer Woche. Dann reden wir weiter."

Amira starrte Tonya lange nachdenklich an, dann nickte sie.

„Ich bin damit einverstanden. Jede zusätzliche Hilfe ist gut. Die Einteilung der Wachen untersteht meiner Beta-Wölfin Sunja. Sie hält im Moment selbst Wache, deshalb ist sie nicht hier. Du wirst sie morgen kennenlernen, wenn du die Einladung zum Frühstück bei mir im Alphahaus nebenan annimmst."

„Das werde ich gerne", entgegnete Tonya. „Für heute aber bitte ich dich, mich zu entschuldigen. Ich bin ziemlich müde und würde mich gerne zurückziehen."

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Vicki hatte sich sorgfältig zurechtgemacht. Sie hatte Max nichts davon erzählt, dass sie am Vormittag zum Trainingsplatz kommen wollte. Vielleicht hätte er es ihr verboten, vielleicht auch nicht. Sie wollte kein Risiko eingehen, aber sie hatte vor, später noch in den Wald zu gehen. Also hatte sie sich von Melli ihre Haare flechten lassen und ihre Frisur mit einer roten Spange fixiert.

Aufgetakelt konte sie nicht dorthin gehen, so edle Kleidung hatte sie auch nicht und es würde auch nicht zu ihr passen. Deswegen entschied sie sich für eine schlichte schwarze Hose mit weiten Beinen und einem buntgemusterten luftigen Batikshirt, das durch seine sanften Farben ihren rosigen Taint leuchten ließ.

Vicki fiel auf. Schon als sie oben an der Treppe stand, die zum tiefer liegendem Trainingsplatz hinunterführte, erregte sie Aufmerksamkeit. Alles an ihr war stimmig, doch am auffälligsten war ihre Ausstrahlung und ihre leuchtenden graugrünen Augen, die neugierig über den Trainingsplatz strichen. Es war ein sehr großer Platz, aufgeteilt in mehrere Bereiche, die durch unterschiedliche Bodenbeläge klar voneinander getrennt waren. Während sich auf den meisten Kampfplätzen Gegner gegenüberstanden, bewegten sich ihre Trainer auf den Wegen dazwischen und brüllten Ihren Schützlingen Befehlen zu.

Nur auf einigen wenigen Plätzen ging es deutlich leiser zu. So auch auf dem Platz, auf dem Max gerade mit einem seiner Schüler trainierte. Bis jemand seinen Namen rief und dabei auf die Treppe deutete. Einen Moment lang war Max unaufmerksam, als er seine Liebste dort entdeckte, und er bezahlte dafür mit einem schmerzhaften Hieb in seinen Magen. Sofort zog sich sein Gegner zurück und entschuldigte sich.

„Wofür?", fragte Max und keuchte. „Ich bin selbst schuld. Ich habe nicht aufgepasst. Warte hier."

Vicki hatte Max entdeckt und stieg nun die Treppe hinunter, während Max den Trainingsplatz überquerte. Am Geländer, das den Trainingsbereich vom Zuschauerbereich trennte, trafen sie sich.

„Was machst du hier?", fragte Max verwirrt.

„Zusehen", antwortete Vicki mit strahlendem Lächeln und drückte ihm einen zärtlichen Kuß auf die Lippen. „Ich habe gehört, dass hier immer einige Frauen ihren Männern beim Training zusehen. Also habe ich mir gedacht, ich komme auch mal vorbei. Vielleicht kann ich mir noch den einen oder anderen Tipp für die Selbstverteidigung abschauen."

Sie blickte sich neugierig um und entdeckte ein paar Frauen, die in einiger Entfernung auf einer Bank saßen und neugierig zu ihnen hinüberstarrten.

„Vicki, ich...", begann Max leise und wurde sofort von ihr unterbrochen.

„Siehst du, dort stehen schon ein paar Frauen", strahlte sie ihn an. „Das ist ja so aufregend." Sie küsste Max auf den Mund. „Mach mich stolz, Liebling", flüsterte sie ihm zu, dann drehte sie sich um, ging ein paar Schritte den Hügel hinauf und setzte sich ins Gras.

Max schloss für einen Moment ergeben die Augen, dann schüttelte er lächelnd den Kopf und ging zu seinem Trainingspartner zurück, wo mittlerweile auch Hendrik und Florian standen. Hendrik blickte hinüber zu Vicki und nickte ihr grüßend zu und Vicki nickte lächelnd zurück. Es war alles gut. Der Weg war frei. Sie würde vielleicht noch eine halbe Stunde Max beim Training zusehen und dann nach Hause gehen, sich ausziehen, verwandeln und laufen gehen.

Suche, Tonya!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt