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Nachdenklich starrte Tonya aus dem Fenster ihres Zimmers. Es war ein eigenartiges Gefühl gewesen, der Erzählung des alten Alpha Tillmann vom Welter-Rudel zu lauschen. Sie lauschte der Geschichte ihrer leiblichen Eltern, ohne diese jemals kennengelernt zu haben.

Jetzt wusste sie mit Sicherheit, dass ihr Vater nicht mehr lebte. Auch wenn ihr das bereits klar war. Fast war sie versucht gewesen, zu erzählen, dass es Luna Lisandra nicht nur geschafft hatte bis zur Hauptstadt des Forster-Rudels zu gelangen, sondern dass sie auch noch eine Tochter entbunden hatte. Aber sofort kamen ihr wieder Siennas Worte ins Gedächnis.

„Es gibt immer noch Mächte, die alles tun würden, dich umzubringen, wüssten sie, dass du die Tochter von Elian und Lisandra Silvan bist."

Gehörte das Alpha-Paar des Welter-Rudels dazu? Obwohl – Alpha Tillman hatte ihrer Mutter damals geholfen zu fliehen. Aber solange sie sich nicht sicher war, dass sie diesen Wölfen voll und ganz vertrauen konnte, würde sie ihre wahre Herkunft verschweigen und bei ihrer erzählten Geschichte bleiben.

Doch sie hatte nicht nur die Geschichte ihrer leiblichen Eltern gehört, sie hatte auch erfahren, dass sie einen Bruder hatte. Vielleicht lebte er noch. Nur, wenn er damals nicht gefunden wurde, wie sollte sie ihn jetzt finden? Zumal ihr Bruder mit ziemlicher Sicherheit nichts von der Existenz einer Schwester wusste. Schließlich war sie bei der Flucht ihrer Mutter noch nicht auf der Welt gewesen.

Und was war das mit diesen besonderen Kräften? Wenn Luna Lisandras ungeborenes Kind besondere Kräfte haben soll, dann müsste sie doch davon wissen. Schließlich war sie doch dieses Kind. Sie aber spürte nichts von besonderen Kräften. Sicher, sie hatte Alpha-Blut in sich. Sie war stolz und stur und würde sich niemals von irgendjemandem befehlen lassen bzw. sich irgendjemandem unterwerfen. Aber das waren doch keine besonderen Kräfte, sondern ihre ganz natürliche Kraft und Ausstrahlung als Alpha-Wölfin.

Vielleicht hätte sie Tillmann fragen sollen, ob über diese Kräfte geredet wurde. Jedenfalls schienen diese angeblichen Kräfte zumindest Mitauslöser für den Verrat gewesen zu sein. Sie hatte nichts gehört, dass ihr Vater Elian Silvan ein böser Mensch gewesen sei. Warum also hätte dieser Beta ihn dann verraten sollen?

Fast die ganze Nacht wälzte sie sich unruhig im Bett hin und her. Selbst Yani half ihr nicht. Yani trauerte. Sie hatte sich zurückgezogen, als sie entschloss, ihre Heimat zu verlassen. Denn dadurch hatte sie auch ihren Mate verlassen und Yani litt unter der Trennung von Rex. Tonya fühlte Yanis Trauer, aber sie musste auch verstehen, dass es für Tonya wichtig war, ihre wahre Herkunft herauszufinden.

Sehr früh am Morgen stand sie seufzend auf, duschte sich, warf ihren Umhang um und ging hinunter in den Aufenthaltsraum im Rudelhaus. Sie war erstaunt schon einige Rudelmitglieder aus dem Welter-Rudel beim Frühstück vorzufinden.

„Guten Morgen", begrüsste sie Yara. „Hier ist noch Platz. Setze dich. Dann bringe ich dir dein Frühstück."

Tonya lächelte den anderen Rudelmitglieder zu und setzte sich.

„Hast du heute etwas vor?", fragte Yara neugierig.

„Nun ja", antwortete Tonya leise. „ich würde gerne Mailina besuchen. Vielleicht kannst du Alpha Anton fragen, ob er mir dies erlaubt."

Yara nickte und ging in die Küche. Ein paar Minuten später kam sie zurück und stellte einen Teller mit Pfannkuchen vor Tonya hin.

„Zucker und Sirup stehen auf dem Tisch", lächelte sie. „Und Alpha Anton gibt dir seine Erlaubnis. Du hast gestern Beta Aaron kennengelernt. Der Beta wird dich begleiten. Doch zuerst Frühstück, ok? Du kannst hier im Aufenthaltsraum warten, bis Aaron dich abholt."

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Es dauerte, bis Beta Aaron endlich zum Rudelhaus kam, um Tonya abzuholen. Er führte sie hinaus auf den Hof, den sie ja schon kannte, und erlaubte ihr, sich zu verwandeln.

Einen Moment lang starrte er Tonyas Wölfin an, dann schüttelte er sich, drehte sich um und lief in den Wald. Zu Recht ging er davon aus, dass Tonya ihm folgte. Zunächst war es noch ziemlich hell im Wald, denn er bestand hauptsächlich aus Laubbäumen, die noch kahl waren, aber bereits die ersten Anzeichen des nahenden Frühlings zeigten. Dann aber veränderte sich der Wald und immer mehr Nadelbäume sorgten dafür, dass die noch schwache Sonne den Boden nur schwer erreichen konnte.

Aaron führte Tonya zwischen den immer dichter stehenden Nadelbäumen hindurch, bis sie schließlich nach fast einer Stunde eine kleine Lichtung erreichten. Am Rande dieser Lichtung, angelehnt an einem kleinen Felsen, stand eine baufällig wirkende Hütte. Auf den ersten Blick sah sie unbewohnt aus. Die Tür stand einen Spalt offen. Bei dem Fenster links daneben waren die hölzernen Fensterläden zu. Bei dem Fenster rechts war eine der beiden Läden offen, wahrscheinlich aber auch nur deshalb, weil das obere Scharnier abgebrochen schien. Nirgendwo gab es zunächst Anzeichen dafür, dass hier ein Mensch lebte.

Neben der alten Hütte stand eine Kiste. Auch diese wirkte alt und unbenutzt. Aaron verwandelte sich vor ihr, öffnete sie und entnahm ihr einen Umhang, den er sich schnell überwarf. Dann reichte er Tonya einen weiteren Umhang und wartete, bis auch sie sich verwandelt und den Umhang angezogen hatte.

„Mailina", rief Aaron, erhielt aber keine Antwort.

„Warte hier", befahl er und betrat vorsichtig die alte Hütte, doch sie war leer. Aufmerksam blickte er sich um und entdeckte Mailina oben auf dem Felsen versteckt hinter einem Gebüsch.

„Komm herunter, Mailina. Ich bin es, Beta Aaron." Schmunzelnd blickte er ihr entgegen, als sie langsam vom Felsen kletterte und neben der Hütte auftauchte. Dort allerdings blieb sie stehen.

„Erkennst du mich Mailina?", fragte Aaron mit sanfter Stimme und ging ihr entgegen.

„Nur ein erleuchteter Sieger kann sehen", murmelte Mailina.

„Ich bin nicht der Sieger, Mailina", antwortete Aaron leise.

„Aber der, der leuchtet", entgegnete Mailina. Sie hob ihre Hand und ertastete Aarons Gesicht. Plötzlich stutzte sie. Ihre Nasenflügel blähten sich. Ihre Augen waren weit aufgerissen und zeigten, dass beide Augen längst getrübt waren. Nur noch der blaue Rand um die milchig trübe Iris ließ die einstige Augenfarbe der alten Frau erkennen. Sie starrte in Tonyas Richtung.

„Er leuchtet der Edlen", flüsterte sie ehrfürchtig. Mit erstaunt aufgerissenen Augen starrte Aaron Tonya an, die ebenso erstaunt über Mailinas Worte wiederum die alte Frau anstarrte.

„Die Edle ist da. Der herrschende Biber sucht nach seinem Heim. Der edle Rabe sucht die Weisheit zwischen hier und dort. Die Kraft des edlen Raben wird wachsen vereint mit dem Herrscher."

Als hätten diese Worte, ausgesprochen mit tiefer kräftiger Stimme, ihre ganze Kraft benötigt, erschlaffte Mailina und wäre gefallen, wenn Aaron nicht schnell genug zugepackt und sie aufgefangen hätte. Langsam ließ er sie zu Boden gleiten. Tonya eilte hinzu und griff nach Mailinas Hand.

„Der edle Rabe hat bereits Kraft", flüsterte Mailina, dann schlief sie erschöpft ein.

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