* 9 *

315 25 3
                                    

„Wenn du kämpfen musst, handle. Wer zögert hat verloren", sagte Tonya laut zu Sunja, die bewegungsunfähig unter ihr lag. Tonya stand auf und zog ihre Gegnerin gleich mit auf die Beine. „Du hast gezögert, einen kurzen Augenblick nur, aber dieser Augenblick hat mir ausgereicht."

Tonya lächelte leicht, dann drehte sie sich zu den zuschauenden Frauen um.

„Wenn ein Kampf unausweichlich ist, nutze jeden Vorteil, den du bekommen kannst und unterschätze nicht den Vorteil eines Überraschungsmoments."

Ihre Augen blickte der Reihe nach jede einzelne der Frauen ernst an. Sie hatten neugierig den kurzen Kampf zwischen ihrer Beta-Wölfin und Tonya verfolgt und waren überrascht, wie schnell diese fremde Frau ihre beste Kämpferin überwältigt hatte.

„Immer dann, wenn ihr noch Zeit habt, bevor ihr handeln müsst, habt ihr die Möglichkeit, den stärksten Gegener ausfindig zu machen. Je mehr ihr trainiert und je mehr Erfahrung ihr sammelt, umso leichter könnt ihr diesen entdecken. Und wenn ihr ihn entdeckt habt, wählt zuerst ihn. Habt ihr den Stärksten eurer Gegner ausgeschaltet, dann habt ihr mit den anderen leichteres Spiel."

„Wir haben doch eh keine Chance", flüsterte eine der Frauen.

„Falsche Einstellung", konterte Tonya. „Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat bereits verloren."

Tonya blickte diese Frau direkt an. „Wie heißt du?"

„Nava", flüsterte die junge Frau.

„Und wie alt bist du, Nava?"

„Siebzehn."

„Und warum bist du hier?"

„Weil meine Eltern tot sind und meine Tante und ihr Gefährte mich nicht aufnehmen wollten. Also haben sie mich an ein anderes Rudel verkauft."

„Ok", nickte Tonya. „Warum bist du dann jetzt nicht bei diesem anderen Rudel?"

Nava trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Sie hatte den Kopf gesenkt und knetete ihre Finger nervös vor ihrem Bauch.

„Nava?", hakte Tonya nach.

„Ich – ich – ich bin abgehauen", flüsterte das Mädchen.

„Allein?"

Nava nickte.

„Lass deine Hände locker hängen, nimm deine Schultern zurück und richte dich auf, Nava. Und dann schau mich an. Du bist genauso groß wie ich, also kannst du mir direkt in die Augen sehen. Du hast dein Leben in die eigenen Hände genommen und du hattest den Mut zu fliehen. Du hast jedes Recht der Welt, stolz auf dich selbst zu sein und deinem Gegenüber in die Augen zu sehen. Du sagst, wir Frauen hätten keine Chance? Doch, wir haben eine Chance."

Tonya wandte sich erneut an alle Frauen.

„Wir sind kleiner als die Männer und wir sind auch körperlich schwächer. Stimmt. Aber dadurch, dass wir kleiner sind, sind wir wendiger und schneller – unser Vorteil. Wir können aufgrund von unserem schwächeren Körperbau nicht so viel einstecken, wie die Männer. Auch das ist richtig. Aber kaum ein Mann wird annehmen, dass ihr wehrhaft seid. Sie halten euch für schwach, dass ihr das nicht seid, ist euer nächster Vorteil. Wenn ihr es schafft und dann auch noch euren Vorteil der Überraschung nutzt und euren Gegner kräftig in die Eier tretet, und ich meine damit wirklich kräftig und mit voller Wucht und ganzer Kraft, dann habt ihr ihn ausgeknockt, und zwar so ausgeknockt, dass ihr genügend Zeit habt, eure Zähne richtig einzusetzen und – zuzubeißen."

Tonya wandte sich an Sunja.

„Bist du bereit, mir zu assistieren?", fragte sie leise und Sunja nickte.

Langsam zeigte sie verschiedene Griffe und erklärte sie.

„Jeden Morgen, wenn ihr aufsteht, stellt ihr euch vor den Spiegel, schaut euch selbst in die Augen und wiederholt den Satz ‚Wenn du kämpfen musst, handle. Wenn du zögerst, hast du verloren.'. Vergesst diesen Satz nie wieder. Und jetzt seid ihr dran. Übt und kämpft."

----

Angespannt stand Vicki auf. Max stand am Rande des Trainingsplatzes und beobachtete seine beiden Schützlinge aufmerksam. Er schien so auf diesen Kampf konzentriert zu sein, dass er nicht zu bemerken schien, wie sich Florian langsam von hinten näherte.

Und dann ging alles ganz schnell. Genau in diesem Moment, in dem Florian seinen Arm um Max Hals legen wollte, schnellte Max Hände nach oben. Er umgriff Florians Unterarm, beugte sich nach vorne und zog seinen Beta mit Schwung über die Schulter.

„Autsch", fluchte Florian und blieb einen Moment stöhnend liegen, bevor er langsam aufstand. „Hast du hinten etwa auch Augen?"

„Nein", grinste Max. „Du warst einfach nur zu laut."

„Zu laut?", fragte Florian ungläubig. „Hier sind so viele Geräusche. Wie konntest du mich da hören?"

„Wir sind Wölfe und wir haben ein hervorragendes Gehör. Aber auch ein Gehör kann man trainieren. Setzt euch auf den Boden und schließt die Augen", forderte er die Männer auf. „Und jetzt lauscht. Versucht die Geräusche voneinander zu trennen. Die Geräusche meiner Schritte werdet ihr deutlich hören. Ich werde einem von euch auf die Schulter tippen. Derjenige sollte so leise wie möglich aufstehen. Versucht die Geräusche, die ich mache, auszublenden. Sobald ihr denjenigen hört, der aufsteht, hebt ihr die Hand."

Jetzt saßen alle Männer auf dem Boden, bis auf Max und Hendrik, der das Ganze neugierig beobachtete. Max tippte einem der Männer auf die Schulter und ging weiter. Ganz langsam stand der Mann auf, aber erst, als er den ersten Schritt machte, hoben sich die ersten Hände der Männer, die in der Nähe saßen. Max nickte ihm zu und gab ihm das Zeichen sich wieder zu setzen. Er selbst ging weiter.

Max blickte hinüber zu Vicki, gab ihr ein Zeichen, so leise wie möglich zu ihm zu kommen. Ganz leise und vorsichtig näherte sich Vicki. Sie hatte fast schon die Männer erreicht, als sich die ersten Hände hoben. Max warf ihr einen Handkuss zu und gab ihr ein Zeichen zurückzugehen. Hendrik begleitete sie bis zu ihrer Bank. Vicki setzte sich und Hendrik blieb stehen, aufmerksam das Geschehen auf dem Platz beobachtend.

Sie ist weg', sagte Vicki in Gedanken.

Wie – weg?', fragte Hendrik, ohne seine Blicke vom Trainingsplatz zu lassen. ‚Für wie lange?'

Keine Ahnung. Sie hat den Mondstein mitgenommen. Also wird sie einige Zeit weg sein.'

Weißt du wohin?'

Nein.'

Vielleicht kannst du ihr eine Nachricht hinterlassen, falls sie zurückkommt.'

Klar.'

Vater plant einen Kampf gegen die Rudellosen. Und er plant auch, die Frauen aus unserem Rudel, die zu diesem Wölfinnenrudel geflohen sind, zurückzuholen.'

Wann?'

Kurz nach der Wintersonnwende.'

Ich werde ihr eine Nachricht hinterlegen. Vielleicht heute Nachmittag?'

Nicht heute. Vater möchte heute nachmittag die Grenzen kontrollieren.'

Morgen?'

Ja,'

Ok.'

„Dein Gefährte ist wirklich gut", sagte Hendrik. Aber da immer noch alle Männer mit geschlossenen Augen auf dem Boden saßen, konnte Max ihn hören. Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte er auf.

„Ich weiß, Alpha", lächelte Vicki und warf ihrem Liebsten einen Kuss zu.

Suche, Tonya!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt