* 35 *

247 22 0
                                    

Es war mitten in der Nacht. Der Mond stand hoch am Himmel. Doch es hatte sich mittlerweile stark bewölkt, so dass das Licht, das der Mond reflektierte, nur wenig Chancen hatte, die Erde zu erreichen. An den strategisch wichtigen Orten standen die Wachen und sicherten aufmerksam nach allen Seiten. Der Rest des Rudels schlief tief und fest und sicher in dem Bewußtsein, dass die Wächter auf sie aufpassen würden.

Auch Hendrik und Florian schliefen. Jemand hatte ihnen reichlich zu essen und zu trinken gebracht und ihnen mitgeteilt, dass weder der Alpha noch der Beta bisher zurückgekehrt seien und war wieder gegangen. Hendrik kämpfte gegen seine Wut an, noch länger in diesem Raum gefangen zu sein, beruhigte sich aber sofort, als Florian amüsiert zu kichern begann.

Früher hätte sich Florian zurückgehalten, da waren die Rollen auch noch anders verteilt. Hendrik war der Alpha und Florian der Beta. Jetzt aber waren sie einfach nur Freunde, Hendrik der rudellose Alpha und Florian, der abgesetzte Beta. Für beide eine neue Situation, aber auch eine Gelegenheit, eine neue Seite an dem Freund zu entdecken.

Hendrik war deutlich ungeduldiger geworden. Obwohl? Vielleicht schien das nur so, weil er nun nicht mehr so beherrscht sein musste. Oder war daran nur der Umstand schuld, dass er seine Mate noch nicht gefunden hatte und nicht wusste, wo sie war und wie es ihr ging und er deswegen Mühe hatte, hier untätig warten zu müssen?

Florian dagegen zeigte nun sehr deutlich die Fähigkeit, ruhig und gelassen Dinge hinzunehmen, die er jetzt im Moment nicht ändern konnte. Hatte er diese Fähigkeit immer schon, oder konnte er sie jetzt nur deutlicher zeigen, weil er nun freier in seinen Handlungen war und nicht mehr Hendrik, seinem Alpha unterstand?

Neidisch hatte Hendrik seinen Freund Florian beobachtet, wie dieser sich nach dem Essen entspannt auf die Pritsche legte und mit hinter dem Kopf verschränkten Händen und geschlossenen Augen ziemlich schnell eingeschlafen war und jetzt leise schnarchte. Einen Moment lang war er versucht, ihn aufzuwecken und ihm Desinteresse vorzuwerfen. Aber dann schalt er sich selbst aus. Florian machte das einzig richtige. Sie waren nicht in Gefahr und wenn er sich jetzt selbst gestattete zu schlafen, dann war auch er am nächsten Tag ausgeruht, wenn sie weiterziehen konnten. Seufzend hatte sich Hendrik dann doch auf die zweite Pritsche gelegt und war wenig später ebenfalls eingeschlafen.

Außer den Wachen bemerkte also niemand, dass mitten in der Nacht zwei Wölfe müde über den Hof trabten und leise das Rudelhaus betraten. Alpha Anton und sein Beta waren zurückgekehrt und noch in ihrer Wolfsgestalt in das Alphabüro im Erdgeschoss gegangen. Erst dort verwandelten sie sich und verschwanden im Büro. Alpha Anton warf seinem Beta einen Umhang zu, bevor er sich selbst einen Umhang überwarf, während er zu seiner Bar ging um dort zwei Gläser Whisky einzuschenkten. Er reichte Aaron ein Glas und setzte sich dann ihm gegenüber in einen der Sessel.

„Auf Mailina", flüsterte Alpha Anton traurig.

„Auf Mailina", antwortete Aaron mit belegter Stimme.

Dann tranken sie ihre Gläser aus.

„Sie wirkte glücklich", murmelte Aaron.

„Ja", bestätigte Alpha Anton bedächtig.

„Es hatte fast den Anschein, als ob sie auf etwas bestimmtes gewartet hatte", murmelte Aaron.

„Schien so", nickte Alpha Anton. „Sie wartete auf den edlen Raben."

„War wohl so", bestätigte Aaron. „Und nun ist der edle Rabe da. Sie hatte ihn gesehen. Sie hatte ihn berührt."

„Und deshalb konnte sie jetzt beruhigt gehen", murmelte Alpha Anton.

Diesmal stand Aaron auf und nahm seinem Alpha das leere Glas ab. Auf seinen fragenden Blick nickte der Alpha und Aaron füllte nochmals die Gläser.

„Ich hatte gehofft, Mailina würde noch mehr verraten", sagte Alpha Anton leise. „Wir können uns nun zwar sicher sein, dass diese kleine Wölfin der edle Rabe ist. Sie ist die Tochter von Elian und Lisandra Silvan. Aber viel mehr wissen wir immer noch nicht."

„Und was machen wir jetzt?", fragte Aaron mit brüchiger Stimme.

„Ich weiß es nicht", seufzte Alpha Anton. „Wir sollten bereit sein, falls die Kleine Hilfe benötigt. Aber wir können ihr nicht einfach folgen. Du hast sie bis zur Grenze zum Minster-Rudel gebracht. Wahrscheinlich wird sie dort sein. Vielleicht sollten wir mit unseren Kontakten Verbindung aufnehmen."

„Nur mit denen im Minster-Rudel?", fragte Aaron.

Alpha Anton überlegte, dann schüttelte er den Kopf. „Nein. Nimm auch Verbindung zu deinen Kontakten im Sander-Rudel auf und sicherheitshalber auch zum Ostram-Rudel."

„Wieviel verraten wir?", fragte Aaron.

„Nichts", entschied Alpha Anton. „Wir fragen einfach mal wieder nach dem aktuellen Stand und nach der Stimmung. Erwähne beim Minster-Rudel so ganz nebenbei, dass eine junge Wölfin unser Revier durchquert hat. Vielleicht reagiert unser Kontakt und erzählt uns was. Beim Sander-Rudel und beim Ostram-Rudel sollten wir Tonya nicht erwähnen."

„Gut", nickte Aaron. „Dann werde ich morgen früh zuerst mit Namuel aus dem Minster-Rudel Kontakt aufnehmen."

„Mach das. Am besten noch bevor wir mit unseren Gästen gesprochen haben. Und jetzt lass uns schlafen gehen. Wir treffen uns morgen nach dem Frühstück wieder."

Suche, Tonya!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt