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Tonya hatte Aaron geholfen, die alte Frau in die Hütte zu bringen und auf ihr Bett zu legen. Aufmerksam suchten ihre Augen die Hütte ab, die äußerst spärlich ausgestattet war. Außer einem Bett, einem Tisch mit zwei Stühlen und einer Kommode mit vielen größeren und kleineren Schubladen gab es keine weiteren Möbel. Eine Pfanne und ein Topf hing jeweils an einem langen Nagel an der Wand neben der Feuerstelle. Daneben hatten selbstgeflochtene Netze und einige hängende Gefäße Platz gefunden. Leider waren die meisten davon leer. Mailina hatte also nicht viel zu essen im Haus.

Nicht zum ersten Mal war Tonya Melli und David dankbar über deren Hartnäckigkeit, sie zwei Jahre lang fast tägliich in den Wald zu begleiten. Dann erst waren sie der Meinung, sie wäre alt genug und wisse genug, um allein in Wald und Flur zurecht zu kommen. Es war ein sehr gutes Training gewesen. David hatte ihr beigebracht, sich im Wald zu orientieren, Feuer zu machen, sich selbst ein Unterschlupf zu bauen, Wasser zu finden und zu jagen. Melli hatte ihr beigebracht, dass Mutter Erde für ihre Kinder sorgte. Sie lernte Kräuter kennen, ihren Nutzen und auch, wo sie sie finden konnte. Und Melli brachte ihr auch bei, auch in ihrer menschlichen Gestalt Nahrung zu finden.

Sie brauchte keine halbe Stunde, da hatte sie eine Handvoll frische Kräuter gesammelt, glücklich darüber, dass die Natur bereits angefangen hatte, den kommenden Frühling zu begrüßen. Schnell hatte sie an der Feuerstelle in der Hütte Feuer gemacht. Sie nahm den Kochtopf vom Haken und füllte ihn am Brunnen vor der Hütte mit Wasser. Dort wusch sie die Kräuter, bevor sie sie sorgfältig in kleine Stückchen zerrupfte und in das Wasser warf.

Wortlos stand Aaron daneben und beobachtete sie dabei, wie sie stetig umrührte bis aus den kleinen gekochten Kräuterblätter ein grüner Brei entstand. Da erst nahm Tonya den Kochtopf vom Feuer und stellte ihn zum Abkühlen auf den Boden. Sie fand noch ein Stück altes steinhartes Brot und bröckelte es in den noch heißen Brei.

Mailina regte sich. Die ganze Zeit über hatten sich ihre Lippen bewegt, jetzt wurde sie lauter und murmelte stetig wirres Zeug von einem edlen Raben, der sucht und von einem herrschenden Biber, der ebenfalls sucht.

Tonya zuckte nur die Schultern. Sie konnte sich keinen Reim auf Mailinas Worte machen.

„Mailina, verstehst du mich?", fragte Tonya leise und setzte sich neben die alte Frau. „Ich habe dir einen Kräuterbrei gemacht. Komm, iß."

„Tonya!"

Aaron sah sie zweifelnd an, als wolle er sie aufhalten, Mailina zu füttern, als habe er Angst, sie würde die alte Frau vergiften. Tonya grinste schief und schob sich selbst einen Löffel des Breis in den Mund. Dann wandte sie sich wieder der alten Frau zu und hob vorsichtig ihren Oberkörper an.

„Iß, Mailina. Das wird dir guttun", flüsterte sie ihr zu und schob ihr vorsichtig den Löffel mit dem mittlerweile lauwarmen Brei zwischen die Lippen. Artig ließ sich Mailina füttern. Plötzlich saß sie aufrecht auf ihrem Bett und umklammerte Tonyas Arm.

„Der edle Rabe versteckt sich. Das ist gut", sagte sie mit deutlicher Stimme, ihre blinden Augen starr auf Tonya gerichtet. „Der edle Rabe muss sich verstecken."

Dann erschlaffte sie erneut, fiel zurück auf ihr Lager und schlief ein.

„Gibt es irgendjemand aus deinem Rudel, der bei ihr sein kann?", fragte Tonya leise. „Sie sollte jetzt nicht allein sein."

„Ich habe bereits jemand gerufen. Sie müsste bald da sein", nickte Aaron und blickte zur Tür hinaus.

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Schweigend trabte Tonya hinter Aaron her, mit gesenktem Kopf, nachdenklich. Was meinte Mailina mit dem Edlen Raben? Und was sollte das mit dem herrschenden Biber? Rabe und Biber vereint? So ein Quatsch. Der Rabe, ein Vogel, ein Geschöpf der Luft und der Biber, ein Nagetier, zuhause an Land und im Wasser. Wie passte das zusammen? Und wen meinte sie damit? Der edle Rabe versteckte sich. Wo? Und vor wem?

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