* 1 *

245 22 0
                                    

Vicki hatte hinter dem Stechpalmenbusch gestanden und so lange Tonya beobachtet, bis sie im Wald verschwunden war. Dann erst betrat sie den geheimen Gang und eilte zurück auf das Gebiet der Forster-Wölfe. Einige Minuten lang blieb sie vor dem Ausgang sitzen und sicherte nach allen Seiten. Erst, als sie sich sicher war, dass keine Wächter in der Nähe waren, wagte sie sich aus dem Eingang hinaus in den Wald.

Nachdenklich trabte sie auf dem weichen Waldboden zurück zur Unterstadt. Sie war glücklich, die Schwester ihres Gefährten und ihre beste Freundin gesund wiedergesehen zu haben und sie war unglücklich, dass sie niemandem davon erzählen durfte. Sobald sie zuhause war, würde sie wieder eine traurige Miene aufsetzen müssen. Sobald sie zuhause war, würde sie wieder auf die Wahl ihrer Wörter achten müssen. Sie würde Zuversicht ausdrücken dürfen, Zuversicht, dass es Tonya gut ginge, mehr aber auch nicht. Vicki seufzte.

Der große dunkelgraue, fast schwarze Wolf stand reglos auf dem Weg. Erst im letzten Moment entdeckte Vicki ihn und schrak zurück, nur um festzustellen, dass auch hinter ihr ein großer graubrauner Wolf stand und ihr jede Fluchtmöglichkeit nahm. Sie hätte auch so keine Chance zur Flucht gehabt, denn die Wölfe waren deutlich größer und mit Sicherheit auch wesentlich schneller als sie.

Folge mir', befahl der dunkelgraue Wolf, drehte sich um und lief gemütlich voraus.

Zitternd folgte Vicki. Es gab keine andere Möglichkeit, denn der zweite Wolf folgte dicht hinter ihr. Vicki hatte die beiden erkannt. Es war Alpha Hendrik und Beta Florian. Aber was wollten sie von ihr? Hatten sie sie beobachtet, wie sie unter diesen umgestürtzten Bäumen hervorkam? Sie war auf dem Gebiet der Unterstadt. Es gab kein Verbot, hier im Wald zu laufen. Oder vielleicht doch und sie wusste nur nichts davon?

Hendrik führte sie zu dem kleinen Felsen. Er kannte ihn also auch. Natürlich, warum auch nicht? Er wusste, dass dort immer Decken trocken und geschützt lagen, für Wölfe, die sich aus welchen Gründen auch immer verwandeln mussten, ohne Gelegenheit gehabt zu haben, zuvor eigene Kleidung dort zu hinterlegen. Benutzte einer der Wölfe eine solche Notdecke, nahm er sie mit, reinigte sie und brachte sie wieder zurück zum Felsen.

Verwandle dich und bedecke dich', befahl Hendrik und die beiden Wölfe drehten sich um, damit Vicki geschützt sich zuerst verwandeln und sich dann in die Decke wickeln konnte.

Florian blieb in seiner Wolfsgestalt, aber Hendrik verwandelte sich ebenfalls und legte sich die Decke über.

Sorge dafür, dass wir ungestört bleiben', bat Hendrik Florian, dann wandte er sich Vicki zu, die ängstlich zittern mit gesenktem Kopf vor ihm stand.

Florian zog sich etwas zurück und sicherte die Umgebung, während Hendrik Vicki aufforderte auf einem Baumstamm Platz zu nehmen.

„Wie geht es ihr?", fragte er leise.

„Was?", fragte Vicki erschrocken. „Es geht uns allen gut", fügte sie flüsternd hinzu.

„Vicki, bitte", murrte Hendrik leise. „Lass uns bei der Wahrheit bleiben."

Vicki erschrak noch mehr. Wie konnte er wissen, dass sie Tonya getroffen hatte?"

„Du hast sie umarmt", flüsterte Hendrik mit trauriger Stimme. „Ich kann sie an dir noch riechen."

Scheiße. Tonya war seine Mate. Natürlich konnte er ihren Duft sehr viel deutlicher wahrnehmen als alle anderen Düfte. Aber was sollte sie jetzt nur darauf erwidern?

„Du weißt, wo sie ist?", fragte er.

„Nein, Alpha", erwiderte Vicki schließlich ehrlich, „Ich weiß wirklich nicht, wo sie gerade ist."

Ganz kurz nur wollte Hendrik wütend aufbegehren, dann fing er an zu grinsen. Klar. Wie sollte Vicki jetzt, in diesem Moment wissen, wo sich Tonya aufhielt. Sie hatte also nicht gelogen.

„Anders gefragt", grinste er leicht. „Du weißt, wo du sie treffen kannst, wo du mit ihr reden kannst, richtig?"

Vicki schluckte. „Bitte", bettelte sie. „Bitte frag mich nicht."

Schweigend saßen sie nebeneinander.

„Sie hat dir das Versprechen abgenommen, niemandem etwas davon zu erzählen", nickte er schließlich verstehend.

Hendriks Augen musterten Vicki prüfend. Er bemerkte, wie sich ihr Gesicht rötete und ihre Augen ängstlich flatterten.

„Das habe ich mir gedacht", murmelte er. „Ich will nicht, dass du deinen Schwur brichst. Ich werde dich auch nicht danach fragen, wie meine kleine Mate es geschafft hatte, unbemerkt die Grenze zu überqueren. Aber ich möchte, dass du nicht mehr ohne mein Wissen zu ihr gehst."

Vicki starrte ihn entsetzt an. „Wie meinst du das?"

„Wenn ich weiß, wann du wieder zu ihr gehst, kann ich dafür sorgen, dass keine unserer Wachen in der Nähe sind, die dich entdecken könnten."

„Warum tust du das?"

„Ich will nicht, dass diese Verbindung entdeckt wird, Vicki", gestand Hendrik. „Vielleicht wird dies die einzige Möglichkeit sein, um Tonya warnen zu können, falls es notwendig werden sollte. Und ich will, dass du und Max und die ganze Familie Burmann in Sicherheit sind."

Vickie starrte ihn erstaunt an. „Sind wir denn in Gefahr?", wollte sie ängstlich wissen.

„Momentan nicht", beruhigte Hendrik sie. „Aber wirst du entdeckt, währst du in sehr großer Gefahr. Tonya hatte meinem Vater vor dem ganzen Rudel die Stirn geboten. Er fühlt sich von ihr blamiert und deswegen ist er immer noch wütend auf sie. Mehr noch. Er hasst sie sogar. Wenn er dich erwischt, wird er alles daransetzen, um dich zu brechen und von dir alle Informationen zu bekommen, um Tonya gefangen nehmen zu können. Unterschätze ihn nicht und unterschätze die Gefahr nicht."

„Und wie soll ich es dir sagen?", fragte Vicki, nachdem sie den Schock überwunden hatte.

„Gewöhne dir an, deinen Gefährten jeden Nachmittag beim Training zuzusehen. Es gibt einige Frauen, die das tun. Es wird also nicht auffallen. Behaupte einfach, du würdest noch etwas lernen wollen. Ein paar Tipps oder Tricks für die Selbstverteidigung. Trage deine Haare immer unterschiedlich. Immer dann, wenn du deine Haare als Zopf UND mit einer roten Spange trägst, weiß ich, dass du die Absicht hast, später noch zu ihr zu gehen. Wenn es zu gefährlich ist, an diesem Tag in den Wald zu gehen, werde ich einen Weg finden, dich zu warnen."

„Wirst du dem Beta von unserer Abmachung erzählen?"

„Nein. Florian untersteht nicht mehr nur mir. Er muss meinem Vater Rede und Antwort stehen. Deswegen ist es besser, wenn er von unserer Abmachung nicht zu viel weiß."

„Darf ich Tonya davon erzählen?"

„Sicher", nickte Hendrik. „Und jetzt solltest du dich verwandeln und nach Hause laufen. Lass die Decke liegen. Wir nehmen sie mit."

Jetzt lächelte Vicki. „Sie hatte sich auch nach dir erkundigt, Alpha Hendrik", flüsterte sie, dann sprang sie hinter eine Hecke und gleich darauf lief sie in ihrer Wolfsgestalt an ihm vorbei nach Hause.

Suche, Tonya!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt