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Das glänzend rötliche Fell von Tonyas Wölfin leuchtete in der Sonne, als sie in aller Ruhe am Ufer des Flusses stand und ihren Durst löschte. Neugierig blickte sie auf die andere Seite des Flusses. Mehrere Wölfe aus ihrem alten Rudel standen dort und starrten sie an, während sich Tonya entspannt ans Ufer setzte und die Wölfe mit schräg gelegtem Kopf beobachtete.

Dieser Fluss war die Grenze zwischen dem Revier des Forster-Rudels und dem Niemandsland. Solange sie den Fluss nicht überquerte, durften ihr die Wölfe nichts tun. Schließlich stand Tonya auf und trabte gemütlich nach Norden. Dabei drehte sie sich immer wieder um, als wollte sie die Wölfe auffordern, ihr zu folgen. Genau das taten sie auch. Die Wölfe folgten Tonya in angemessenem Abstand, denn es war nicht mehr weit bis zu einer Stelle, an der es viele große Steine im Flussbett gab, die eine bequeme Überquerung des Flusses ermöglichten.

Kurz zuvor aber stoppte sie. Sie lauschte. Dann streckte sie ihre Nase in die Luft. Der Geruch, den sie wahrnahm, gefiel ihr nicht. Mit einem kurzen Blick auf ihre ehemaligen Rudelmitglieder drehte sie ab und verschwand im Wald.

Gleich darauf konnten die Wölfe auch den Grund sehen, der Tonya veranlasst hatte zu verschwinden. Einige Rudellose tauchten auf, bemerkten die Grenzwachen auf der anderen Flussseite und fletschten drohend ihre Zähne. Tonya hatten sie nicht bemerkt. Sie hatte sich rechtzeitig vom Fluss entfernt und lief nun, immer noch vorsichtig nach allen Seiten sichernd, nach Osten weiter in den Wald hinein, bevor sie nach Süden abbog und in einem großen Bogen zurück zu ihrem Versteck lief.

Vicki hatte ihr ein Bündel mit Nahrung mitgebracht und Tonya hatte Hunger. Fest in ihre Decke eingewickelt saß sie in der kleinen Höhle auf ihrem Strohbett und genoß den Geschmack von frisch gebackenem Brot, von Wurst und Käse. Es war noch etwas Obst mit dabei und leckere Schokolade. Genau das hatte sie auch in den letzten vier Wochen, seit sie nicht mehr zum Forster-Rudel gehörte, ein paarmal in der Höhle vorgefunden, als Hinweis darauf, dass Vicki dagewesen war.

Das allein reichte natürlich nicht, um vollständig ihren Hunger zu stillen. Aber damit hatte Tonya kein großes Problem. Früher schon war sie sehr häufig im Wald gewesen und sie hatte dabei auch jagen trainiert. In ihrer menschlichen Form hätte sie das Fleisch kochen oder grillen müssen. In ihrer Wolfsform aber konnte sie auch rohes Fleisch problemlos zu sich nehmen und verdauen. Umso mehr aber genoss sie die Nahrungsmittel, die Vicki ihr immer wieder vorbeibrachte.

Satt lehnte sie sich zurück und gestattete ihren Gedanken abzuschweifen. Als sie das Stadion verlassen hatte, war sie in voller Geschwindigkeit bis zu dem geheimen Eingang zum unterirdischen Pfad gelaufen. Gerade noch rechtzeitig hatte sie sich in dem Gestrüpp verstecken können, da hörte sie schon das kurze Aufheulen von Wölfen, die sich näherten. Schnell hatte sie sich unten auf der Erde gewälzt um ihren Geruch zu überdecken, dann war sie zügig den Gang entlang bis zu dieser kleinen Höhle gelaufen.

Tonya hatte diesen Eingang schon vor Jahren entdeckt, als sie auf dem Revier ihres alten Rudels auf glitschig nassem Grund in eine Spalte fiel und eben in diesem schmalen Gang, verborgen unter Felsen und Gehölz, landete. Neugierig war sie den Gang weitergegangen bis zu dieser Höhle. Schnell hatte sie festgestellt, dass dieser etwa ein Kilometer lange Gang eine Verbindung zwischen dem Revier des Forster-Rudels und dem Niemandsland war.

Lange Zeit hatte sie den Eingang beobachtet und zufrieden festgestellt, dass wirklich niemand diesen Pfad kannte. Der Einstieg war vortrefflich getarnt. Zuhilfe kam ihr zusätzlich noch ein Sturm, der einige Bäume so günstig hatte fallen lassen, dass wirklich niemand mehr auch nur durch Zufall in den Gang rutschen konnte.

Der ganze unterirdische Gang war schnurgerade angelegt und auf seiner gesamten Länge fast vollständig überdacht. Nur wenige kleine Löcher und Spalten gab es, die etwas Licht in den Gang brachten und ihn belüfteten. Aber auch diese Löcher und Spalten waren völlig überwuchert und so vor zufälligem Entdecken geschützt.

Die kleine Höhle im Felsen außerhalb des Reviers ihres alten Rudels, kannte ebenfalls niemand. Außer dem Zugang durch diesen Gang gab es nur noch einen schmalen Eingang zu dieser Höhle, doch dieser war von einem Felsblock verdeckt. Außerdem stand davor auch eine Stechpalme, die im Laufe der Jahre mehrere Meter hochgewachsen war und diesen Spalt vollständig verdeckte, so dass niemand auf die Idee kommen konnte, dass sich dahinter ein Eingang verbarg.

Im hinteren Bereich der Höhle gab es noch einen zweiten Zugang. Dieser aber führte steil bergauf auf einen kleinen Felsvorsprung knapp unterhalb des Gipfels, der von außen nur durch Klettern erreichbar war. Von dort aus aber gelangte man sehr leicht bis auf den Felsen. Auch dieser Eingang kannte niemand. Der Fels war viel zu zerklüftet und mit Moosen und Flechten bedeckt und mit Sträuchern und sonstigen Pflanzen bewachsen. Er bot nicht nur den unterschiedlichsten Pflanzen einen gesicherten Standort, sondern war auch vielen kleinen Tieren ein sicheres Zuhause.

Gut für Tonya, denn als Teil eines Naturschutzgebietes war es Menschen verboten, diesen Bereich zu betreten. Der Fels selbst war auch vor Wölfen sicher, denn Wölfe konnten nicht klettern. Sie würden nur dann auf den Felsen hinauflaufen, wenn es zumindest einen schmalen Weg geben würde. An den meisten Stellen aber war der Fels viel zu steil oder so stark zerklüftet, dass sie von Stein zu Stein springen müssten. Aber auch das wäre ein mühsames Unterfangen, denn es standen viel zu viele Bäume und Sträucher im Weg.

Wer diesen geheimen Gang, die Höhle und diese Eingänge errichtet hatte, war nirgendwo belegt. Er musste schon vor vielen Generationen von Menschen angelegt worden sein und war sicher schon lange in Vergessenheit geraten. Seine Existenz war wahrscheinlich nur von Mund zu Mund weitergegeben worden und von denen, die davon wussten, lebte nun niemand mehr.

Tonya hatte die Anlage wiederentdeckt und außer ihr gab es nur noch ihre Schwägerin und beste Freundin Vicki, die sie in ihr Geheimnis eingeweiht hatte. 

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