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Die Wochen vergingen, doch noch immer war kein Schnee gefallen. Über dem See und dem Moor im südlichen Bereich und entlang der träge fließenden Flüsse hing fast jeden Morgen dichter Nebel, der bei dieser Kälte gefror und sich wie eine weiße Decke über die Natur legte. Die Tage wurden immer kürzer. Obwohl es fast ständig wolkenlos blieb, reichte die Kraft der tiefstehenden Sonne nicht aus, um den Raureif komplett aufzutauen, bevor die kalte Nacht neuen Raureif entstehen ließ. Aber Schnee hatte es immer noch nicht gegeben und es sah auch nicht danach aus, als ob es in naher Zukunft schneien würde.

Seit ihrem Gespräch mit Sunja lebte Tonya in diesem kleinen Hochtal. Mehr als zehn Frauen waren ihr freiwillig dorthin gefolgt. Auch sie wussten nun, dass sich hinter der scheuen Eigenbrödlerin Patrischa, Tonya, die Mate von Alpha Hendrik aus dem Forster-Rudel, verbarg. Doch selbst dann, wenn eine dieser Frauen ins Dorf der Wölfinnen ging, um dort Nahrung zu besorgen, wurde immer nur von Patrischa gesprochen, wenn überhaupt.

Tonya war verschwunden und niemand wusste, wohin. Offiziell.

Brea, die Älteste der Frauen, die mit Patrischa in der Einsamkeit lebten, war gerade im Dorf, als sich einer der Rudellosen mit einer weißen Fahne langsam von Westen her näherte und in gebührendem Abstand vor der Dorfgrenze stehen blieb. Er wartete, bis sich Amira, die Alpha-Wölfin, ihm näherte. Hinter ihr gingen mehere Frauen sichernd in Stellung und beobachteten nicht nur ihn genau, sondern auch die Umgebung hinter ihm.

Er habe eine Nachricht für Tonya Burmann, gab er an und erfuhr von Amira, dass Tonya bereits vor mehreren Wochen das Rudel verlassen habe. Der Rudellose wollte seine Nachricht trotzdem weitergeben, für den Fall, dass Tonya zurückkehren würde. Er bat darum, ihr dann mitzuteilen, dass Ihre Mutter schwer erkrankt sei und den Wunsch geäußert habe, ihre Tochter nochmals sehen zu dürfen. Man wolle ihr diesen Wunsch erfüllen und gewähre Tonya freies und sicheres Geleit, sollte sie ihre Mutter besuchen wollen.

Amira versprach, diese Nachricht an Tonya weiterzuleiten, sollte sie tatsächlch nochmals ins Dorf zurückkehren, was sie allerdings bezweifeln würde. Tonya sei mitten in der Nacht gegangen. Sie habe nur ein Blatt Papier mit den Worten „Danke für Alles" zurückgelassen. Niemand wisse, in welche Richtung sie weitergezogen sei, und sie habe auch niemandem erzählt, was sie plane.

Der Rudellose zog sich langsam zurück. Seit Wochen schon beobachteten die Rudellosen das Dorf. Sie hatten den Auftrag bekommen, herauszufinden, ob Tonya sich hierher verkrochen hatte, und weil sie sie nirgendwo sehen konnten, hatten sie sich entschlossen, sich mit einer Finte direkt nach ihr zu erkundigen. Sie war also nicht mehr da. Diese Auskunft stimmte mit ihren Beobachtungen überein. Allerdings hatte er gehofft, etwas über ihren jetzigen Aufenthalt zu erfahren. Doch das, was diese Alpha-Wölfin ihm erzählte, klang stimmig.

Einige Rudellose waren im Süden unterwegs gewesen und einige im Norden. Doch auch sie kamen ohne befriedigende Nachricht zurück. Tonya Burmann war also wirklich fortgegangen und niemand wusste, wohin. Diese Information würde ihrem Auftraggeber sicher nicht gefallen.

Dafür aber bekam der Rudellose einen kleinen Eindruck von dem Dorf der Wölfinnen. So wie es den Anschein hatte, lebten weitaus weniger Frauen in diesem Dorf, als sie zunächst angenommen hatten. Fast täglich beobachteten sie einige Frauen, die in ihrer Wolfsgestalt das Dorf verließen und einige Zeit später mit Beute zurückkehrten. Sie jagden im Waldgebiet östlich des Dorfes.

Sie trainierten täglich, achteten durchaus auch auf Sicherheit, indem sie Wachen aufstellten, aber es waren eben Frauen, schwach und schlecht ausgebildet und daher nur stümperhaft gegen Angriffe abgesichert. Sie würden leichtes Spiel haben, wenn es soweit war.

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„Hallo Sunja."

„Hallo Tonya."

Tonya setzte sich neben Sunja auf den Felsvorsprung auf der kleinen Wachplattform in der Felswand.

„Ein Rudelloser war da", berichtete Sunja. „Er hat sich nach dir erkundigt. Gab an, deine Mutter wäre sehr krank und würde dich gerne nochmals sehen wollen."

„Brea hat es mir schon erzählt. Aber das war kein Rudelloser", schüttelte Tonya entschieden den Kopf. „Ein Rudelloser hätte niemals den Mut gehabt, allein zu kommen. Rudellose sind feige Hunde, sie sind nur stark, wenn sie ihre Kumpels dabeihaben."

Sunja nickte zustimmend. „Sehe ich auch so. Aber sie haben dir freies Geleit angeboten."

„Sie glauben wohl tatsächlich, ich wäre so blöde und würde ihnen in die Falle gehen."

„Du glaubst wirklich, dass das eine Falle ist?"

„Sicher. Ich kenne meine Mutter. Sie liebt mich unendlich. Sie würde nichts wollen und um nichts bitten, was mich in Gefahr bringen könnte. Und ich kenne Alpha Norman. Er ist absolut skrupellos. Er würde mir die Sterne vom Himmel versprechen nur um mich in seine Finger zu bekommen. Seid vorsichtig, Sunja. Passt auf und bereitet euch vor. Ich glaube, es wird nicht mehr lange dauern."

„Aber wenn sie glauben, dass du verschwunden bist?", fragte Sunja hoffnungsvoll.

„Dann werden sie vielleicht mit einer kleineren Mannschaft anrücken", grinste Tonya. „Schließlich seid ihr doch nur schwache Frauen, also keine ernsthaften Gegner für das starke Geschlecht."

„Sie werden sich wundern", kicherte Sunja.

Tonya nickte. „Wir bleiben bei unserem Plan."

„Der Plan ist auch gut. Wir sind ab sofort in Bereitschaft."

„Viel Glück."

Tonya klopfte Sunja auf die Schulter, verwandelte sich und war gleich darauf in der Dunkelheit verschwunden.

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