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Es war mitten in der Nacht, als Tonya das Dorf der Wölfinnen erreichte. Fast zwei Tage lang war sie verschwunden gewesen und Amira und Sunja glaubten schon an einen Verrat. Doch Sienna gelang es, die beiden zu beruhigen.

Tonya würde zurückkommen, hatte Sienna versprochen. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken, weil sie selbst noch viel zu viel Zweifel in sich selbst verspüren würde und noch nicht wusste, für welchen Weg sie sich entscheiden sollte. Aber Tonya würde zurückkommen und sie würde auch an der Seite der Wölfinnen kämpfen, sollte es tatsächlich im Frühjahr zu einem großen Kampf kommen.

Amira und Sunja waren noch nicht wirklich überzeugt, aber sie versprachen Sienna, ihrem Gast etwas Zeit zu geben. Trotzdem lief Amira in der Nacht nervös im Dorf Streife. Sie hielt sich im Dunkeln zwischen den Häusern und nutzte jedes Versteck, sicherte nach allen Seiten und wechselte dann die Stellung. Sunja selbst hielt auf der Plattform in der Felswand Wache. Aufmerksam ließ sie ihre Blicke über die Ebene gleiten. Es war eine helle Nacht. Nur noch wenige Tage bis zum Vollmond und es war sternenklar. Entsprechend weit konnte sie in dieser Nacht sehen.

Trotzdem erschrak Sunja, als sie plötzlich leise angesprochen wurde.

„Sunja? Bitte sei leise. Ich muss mit dir reden."

Kampfbereit stand Sunja da und blickte Tonya entgegen, die nun langsam näherkam.

„Wo warst du?"

„Im Süden", erwiderte Tonya und setzte sich. „Ich habe ein Versteck im Süden. Außer mir gibt es nur noch eine einzige Person, die dieses Versteck kennt. Diese Person hat mir dort Nachrichten hinterlegt. Wir müssen uns vorbereiten, Sunja. Alpha Norman plant einen Angriff."

„Sagt diese Person", argwöhnte Sunja. „Und du traust ihr?"

„Bedingungslos", nickte Tonya. „Alpha Norman will mich. Er hat Spione bei den Rudellosen eingeschleußt. Sie sollen herausfinden, wo ich bin. Wenn sie mich gefunden haben, werden sie angreifen."

„Dann sollten wir darüber nachdenken, dich auszuliefern", schlug Sunja spöttisch vor.

„Wäre eine Möglichkeit", grinste Tonya schief. „Das würde aber nicht den Kampf verhindern."

„So. Meinst du?", zweifelte Sunja.

„Alpha Norman hat drei Ziele", erklärte Tonya. „Ziel eins, er will die Rudellosen vernichten, denn er sieht in ihnen eine Gefahr für das Forster-Rudel. Ziel zwei, er will euch vernichten, denn es gibt einige Frauen aus dem Forster-Rudel, die bei euch Unterschlupf gefunden haben. Und diese Frauen will er zurückholen, schließlich sind sie – sein Eigentum. Sein Rudel – seine Wölfe. Und das dritte Ziel bin ich. Er will mich haben, damit Hendrik mich ablehnen kann und dann die Tochter seines besten Freundes zur Gefährtin wählen kann."

„Ist doch Blödsinn", schnaubte Sunja. „Die Ablehnung ist nur dann gültig, wenn du sie akzeptierst."

„Richtig", nickte Tonya. „Im Klartext, er will mein Tod, weil er weiß, dass ich dieser Ablehnung nicht zustimmen werde."

„Glaubst du wirklich, er würde das seinem Sohn antun?", fragte Sunja zweifelnd.

„Ja", nickte Tonya. „Geld zu Geld, Macht zu Macht. Durch die Verbindung zwischen Hendrik und dieser Evelina hätten Alpha Norman und sein Freund die Macht über das ganze Rudel. Gemeinsam gehören den beiden dann etwa zwei Drittel von allem, was das Forster-Rudel ausmacht."

„Wenn Hendrik und diese Evelina sich verpaaren, dann hätten sie doch die Macht und nicht ihre Väter", warf Sunja ein.

„Irrtum", schüttelte Tonya den Kopf. „Solange Alpha Norman dieses Amt nicht an seinen Sohn weitergegeben hat, ist er der Alpha und hat das Sagen. Und Evelina ist ein braves und folgsames Mädchen. Der Rat steht hinter Alpha Norman. Noch haben die Alten die Macht. Und würden sie ihr Ziel erreichen, würde auch ihre Macht größer und Hendrik hätte es deutlich schwerer, dagegen anzukommen."

„Und was ist, wenn Hendrik genau dasselbe will, wie sein Vater?", fragte Sunja noch immer zweifelnd.

„Nein", schüttelte Tonya entschieden den Kopf. „Hendrik widersetzt sich seinem Vater und lehnt Evelina grundsätzlich ab. Er ist sogar aus dem Alphahaus ausgezogen und lebt nun in einem Gästezimmer im Rudelhaus. Genau deshalb ist Alpha Norman auch so zornig auf mich. Ich habe ihn vor dem ganzen Rudel die Stirn geboten und nun bin ich auch noch schuld daran, dass sein Sohn sich ihm widersetzt. Alpha Norman will meinen Tod."

„Das macht Sinn", sinnierte Sunja. „Was schlägst du vor?"

„Ich schätze, die Frauen aus dem Dorf werden nun annehmen, ich wäre abgehauen", überlegte Tonya und blickte Sunja fragend an. Diese nickte zustimmend. „Nutzen wir das aus und lassen wir sie in diesem Glauben. Ab sofort bin ich Patrischa. Erzähle nur Amira und Sienna von mir. Für alle anderen aus dem Dorf werde ich die scheue Eigenbrödlerin Patrischa in den Wäldern."

„Und was soll das bringen?", fragte Sunja skeptisch.

„Wenn du den Weg zum Dorf hinaus nach Osten noch etwa dreihundert Meter weitergehst, und dann im Wald vom Weg abbiegst und zum Berg hingehst, findest du einen kleinen Einstieg in die Berge hinein. Es ist ein steiniger schmaler kaum erkennbarer Weg zwischen Felsen hindurch bergaufführend in ein schmales, kleines Hochtal. Es gibt dort einige Höhlen. Ich werde mich dort verstecken. Wähle unter deinen Kämpferinnen die besten und zuverlässigsten aus und schicke sie in geheimer Mission in dieses Tal. Ich werde sie trainieren. Du trainierst mit den anderen Frauen im Dorf normal weiter."

„Ich verstehe", nickte Sunja. „Du willst also eine besondere Kämpfergruppe aufbauen. Im Geheimen."

„Ja", nickte Tonya. „Sollte Alpha Norman angreifen, werde ich ihm und seinen Wölfen in den Rücken fallen. Er wird nicht damit rechnen. Und selbst dann, wenn er uns besiegen sollte, wird er dadurch sehr große Verluste verschmerzen müssen."

„Ich weiß immer noch nicht, ob ich dir wirklich trauen kann", murmelte Sunja.

„Ich schwöre dir bei allem, was mir heilig ist, dass ich auf eurer Seite stehe und mein Leben für die Sicherheit des Rudels einsetzen werde."

„Aber du willst nicht Teil unseres Rudels werden", bemerkte Sunja noch immer mißtrauisch.

„Das kann ich nicht", flüsterte Tonya entschuldigend. „Es gibt in meinem Leben noch zu viele Fragezeichen, Sunja. Diese Fragezeichen haben mit mir zu tun, mit meiner Persönlichkeit und mit meinen Fähigkeiten. Wenn ich das hier überlebe, werde ich losziehen und versuchen Antworten auf meine Fragen zu finden. Deswegen werde ich mich euch nicht dauerhaft anschließen können."

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