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Sie sollte die Nachtwache übernehmen und Tonya war damit einverstanden. In der Dämmerung führte Sunja sie hinauf auf die kleine Aussichtsplattform. Der Weg war zwar an manchen Stellen steil, aber ansonsten bequem zu gehen. Und der Ausblick war mehr als nur sehr gut. Der Ausblick war herrlich.

Von hier aus konnte sie das ganze Dorf überblicken. Auch die Straße, die parallel zum Berg in einer leichten Schlangenlinie durch das Dorf führte, konnte sie von Waldrand bis Waldrand überblicken. Von dieser Hauptstraße abgehend führten noch drei weitere Wege aus dem Dorf hinaus. Auch diese Wege, die vom Berg wegführten, konnte sie bis zum weit entfernten Waldrand einsehen.

Tagsüber genügte tatsächlich eine aufmerksame Wache auf diesem Aussichtspunkt. Nachts aber war das zu wenig. Tonya hätte am liebsten gleich ihre Bedenken Sunja gegenüber geäußert, doch diese hatte sie nur bis oben begleitet, eine Tasche mit Proviant neben ihr abgestellt und war dann gleich wieder abgestiegen. Aber sie nahm sich vor, am nächsten Tag mit Amira und Sunja über dieses Sicherheitsproblem zu reden.

Ein kalter Wind pfiff am Berg vorbei und Tonya kuschelte sich tief in das wärmende Fell und ließ ihre Augen langsam suchend über die Landschaft gleiten. Ihre Gedanken dagegen glitten in die Ferne zu ihrer Familie. Sie vermisste sie und sie vermisste Hendrik. Warum nur hatte sie gegen ihn gekämpft? Sie hatte ihre Handlungsweise zunächst für richtig gehalten. Jetzt plagten sie Zweifel. Wenn sie nicht so stur gewesen wäre, würde sie jetzt an der Seite ihres Gefährten glücklich leben. Oder vielleicht doch nicht? Tonya seufzte. Was sollte sie tun?

Plötzlich hörte sie Schritte und wenige Augenblicke später sah sie die Frau, die sich schnaufend der kleinen Aussichtsplattform näherte.

„Stopp", sagte Tonya mit harter Stimme, in ihrer Haltung aufmerksam und kampfbereit. „Wer bist du?"

„Mein Name ist Sienna", erwiderte die Frau noch immer schnell atmend von der Anstrengung des Aufstiegs. „Amira hat mich gebeten, dir Gesellschaft zu leisten und deine Fragen zu beantworten, falls du welche hast und ich auf deine Fragen auch wirklich eine Antwort kenne. Darf ich neben dir Platz nehmen?"

Tonya nickte und setzte sich wieder. Sienna hieß diese Frau, Sienna. War sie diese Sienna? Blödsinn, beantwortete sie sich selbst ihre Frage. Wie denn auch? Diese Sienna war zwei Tage nach ihrer Geburt verschwunden. Niemand wusste, wohin sie ging. Wie sollte es möglich sein, dass genau diese Frau ihr hier begegnen sollte? Außerdem – es gab sicher viele Frauen mit dem Namen Sienna. Doch irgendwo tief in ihr regte sich ein Gefühl. Etwas, das sie deutlich spürte aber nicht benennen und nicht beschreiben konnte.

Schweigend hatte Sienna neben ihr Platz genommen und sich ebenfalls wie Tonya in ihr mitgebrachtes warmes Fell gewickelt.

„Geht es dir gut?", fragte sie schließlich leise.

„Ja. Schon", antwortete Tonya zögerlich.

„Ich höre ein Aber", lächelte Sienna.

Tonya schwieg.

„Ich spüre Zweifel in dir", sagte Sienna schließlich. „Warum?"

Es dauerte lange bis Tonya schließlich antwortete. „Ich weiß nicht, ob ich richtig gehandelt habe."

„Was wäre die Alternative gewesen?"

Tonya zuckte mit den Schultern. „Ich hätte Ja sagen können."

„Und dann?"

„Dann wäre ich jetzt die brave Gefährtin an der Seite eines Alphas und eine liebende Luna für das Rudel", antwortete Tonya spöttisch.

Sienna lachte leise. „Deinem Ton nach, ist das nicht gerade das, was du dir wünscht."

„Irgendwie schon, aber nicht auf diese Art und Weise."

„Warum zweifelst du dann an deiner Entscheidung?", fragte Sienna sanft.

Tonya schwieg.

„Das Mateband ist etwas Wunderbares, wenn es ernst genommen wird", sagte Sienna leise. „Wenn es ernst genommen wird, ist es ein Zeichen dafür, dass es beide Seiten gleichermaßen braucht, um etwas Ganzes daraus zu machen. Die Mondgöttin Luna wollte schon das Richtige. Sie wollte, dass sich nicht nur die Frauen in eine Beziehung einbringen, sondern dass sich auch die Männer endlich ihrer Verantwortung bewusstwerden und sich um ihre Gefährtinnen entsprechend kümmern. Leider haben das noch viel zu viele Männer nicht begriffen. Und sie hatte Hintertüren zugelassen. Leider."

„Hintertüren?", fragte Tonya leicht verwirrt.

„Ja", kicherte Sienna leise. „Das Mateband ist von anfang an vorhanden. Aber sie hat trotzdem noch jedem Mann und jeder Frau eine Wahl gelassen. Das Mateband wirkt erst dann vollständig, wenn beide Seiten es besiegeln – freiwillig besiegeln."

„Freiwillig?" Tonya starrte Sienna ungläubig an.

„Ja, freiwillig." Jetzt klang Siennas Stimme sehr ernst. „Es sind manchmal besondere Fähigkeiten oder Kräfte mit dem Mateband verbunden. Wird das Band von beiden Seiten aus Liebe und freiwillig besiegelt, entfalten sich diese Fähigkeiten und diese Kräfte. Besiegelt nur eine Seite das Band unter Zwang, verkümmern diese Fähigkeiten und Kräfte sehr schnell."

„Vorausgesetzt man hat tatsächlich solche Fähigkeiten oder Kräfte", antwortete Tonya lakonisch.

„Richtig", nickte Sienna, „aber selbst wenn nicht, bei einem Bündnis unter Zwang fehlt der Segen, der Segen der Mondgöttin."

Gedankenversunken und schweigend saßen die beiden Frauen nebeneinander. Tonyas Augen scannte die Umgebung und registrierte jede Bewegung, während sich ihre Gedanken überschlugen. Wenn das stimmte, was Sienna gerade gesagt hatte, dann war ihre Entscheidung richtig gewesen. Hätte sie sich Alpha Norman gebeugt und seinen Sohn Hendrik vor allen Augen markiert, wäre das unter Zwang geschehen.

„Wärst du anstelle der Mondgöttin, wie wäre es dann mit dem Mateband?", fragte sie Sienna schließlich neugierig. „Würde es dann überhaupt ein Mateband geben?"

„Sicher", lachte Sienna. „Sogar eines ohne Hintertür. Aber, jeder Mann würde den Schmerz und die Angst, die er seiner Gefährtin zufügt, in gleicher Stärke ebenfalls erleben. Andersherum natürlich auch."

Jetzt lachte Tonya. „Ich stelle mir gerade vor, wie sich die männlichen Wölfe winselnd auf dem Boden wälzen, während ihre Gefährtinnen gerade ihre Welpen zur Welt bringen."

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