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Siegestrunken trieben die Frauen ihre Gefangenen zum Dorf und in das Rudelhaus. Johlend schubsten sie sie mit ihren Speerspitzen und zogen an ihren Halsbändern. Sie hatten gesiegt. Mehr noch. Sie hatten nicht nur gesiegt, sie hatten auch noch Gefangene gemacht, wertvolle Gefangene. Selbst die Wölfinnen, die im Kampf verletzt wurden, überspielten ihre Schmerzen und jubelten mit. Sie würden sich im Rudelhaus versorgen lassen, vielleicht auch etwas gegen die Schmerzen nehmen und dann mit den anderen Frauen feiern. Welch ein Erfolg. Nur einige wenige Frauen hielten auf Sunjas Befehl Wache.

Die Stimmung im Rudelhaus war mehr als nur ausgelassen. Weinbecher machten die Runde und heizten noch weiter auf. Während die Männer in Reihe an der Wand auf ihren Fersen sitzend verharren mussten, wurden sie von den Frauen angemacht und angefasst. Sehr schnell waren ihre Umhänge nach unten gerutscht und boten den Frauen einen ungehinderten Blick auf gut trainierte, muskulöse Männeroberkörper und auf mehr.

Nur Tonya war nirgendwo zu sehen und – Sienna. Aber niemand schien dies zu bemerken, zumal die meisten Frauen aus dem Dorf Tonya seit Wochen schon nicht mehr gesehen hatten.

Tonya hatte nicht einmal den Siegeszug zum Dorf zurückbegleitet, sie war sofort in den Wald gelaufen. Und während alle anderen Frauen euphorisch den Sieg bejubelten, hatte Sienna die ganze Zeit über Tonya beobachtet und war ihr dann auch in den Wald gefolgt. Sie fand sie genau dort, wo sie sie schon mehrmals angetroffen hatte, oben auf einem großen Felsblock am Fuße des Berges.

Tonya hatte sich verwandelt und sich vor Kälte zitternd zusammengekauert. Sie fror und sie weinte. Sie registrierte nur am Rande, dass Sienna ihr einen Umhang um die Schultern legte und sich dicht neben sie setzte. Minutenlang blieben sie reglos sitzen, so lange, bis Tonyas Tränen weniger wurde und sie nur noch leise schluchzend vor sich hinstarrte.

„Du solltest zurückgehen", sagte Sienna leise.

„Warum?" Tonyas Stimme war kaum zu hören.

„Er gehört dir", antwortete Sienna.

„Niemand gehört mir", widersprach Tonya entschieden.

„Aber du kannst ihn nicht dort lassen, nicht in Amiras Hände."

„Er ist ein Gefangener. Und Amira ist nun mal die Alpha-Wölfin."

„Richtig. Aber er hat sich dir ergeben, nicht ihr", erinnerte Sienna.

„Und wenn schon."

„Tonya, Hendrik ist dein Mate. Wenn du ihn in Amiras Händen lässt, wird er leiden müssen."

„Das glaube ich nicht."

„Amira ist eine gute Alpha-Wölfin, ohne Frage. Aber sie hasst Alpha Norman. Du kannst das nicht wissen, aber Alpha Norman ist dafür verantwortlich, dass Amiras Eltern aus dem Rudel ausgestoßen wurden. Es gab da eine Frau, die sich gegen ihren Gefährten aufgelehnt hatte. Sie war eine ganze zeitlang im Kerker eingesperrt und sollte dann vor dem Rat und einigen auserwählten Rudelmitgliedern ihrem Gefährten absoluten Gehorsam schwören. Es war ein extrem heißer Tag gewesen und die Frau war sehr schwach und fast schon am Verdursten. Amiras Eltern hatten es gewagt, der Frau etwas zu trinken zu geben. Damit hatten sie Alpha Normans Zorn auf sich gezogen und wurden aus dem Rudel ausgestoßen. Amira musste mit ihren Eltern ihre Heimat verlassen und ist in einem anderen Rudel aufgewachsen. Es war sehr hart für sie gewesen. Im Forster-Rudel hatte sie ihre Familie und ihre Freunde. In diesem neuen Rudel waren ihre Eltern und sie ganz am Ende der Rangordnung und mussten sich mühsam etwas mehr Achtung erarbeiten. Verstehst du jetzt, warum Amira Alpha Norman so hasst? Wenn du Hendrik in ihren Händen lässt, wird sie all ihre Wut und ihren Hass an ihm auslassen. Aber er ist nicht verantwortlich für das, was sein Vater getan hatte und noch tun wird. Und für die Taten seines Vaters zu büsen, hat er nicht verdient. Hilf ihm, Tonya. Nur du hast die Möglichkeit, ihn aus ihren Händen zu retten."

„Wie denn? Ich gehöre nicht einmal zu diesem Rudel."

„Du hast Alpha-Blut in dir, Tonya. Du hast die Kraft und die Ausstrahlung einer Alpha-Wölfin. Amira kann dir nicht das Wasser reichen. Sie ist zwar die Alpha-Wölfin aus diesem Rudel, aber nur, weil sie dazu gewählt wurde."

„Aber ich kann nicht einfach..."

„Doch, du kannst. Sie haben gewonnen und du hast daran den größten Anteil. Du hast jedes Recht, Forderungen zu stellen und solltest du deinen letzten Trumpf ausspielen müssen. Wenn du Amira herausforderst, darf niemand eingreifen. Ein Alpha-Kampf ist ein Alpha-Kampf. Amira hat keine Chance gegen dich. Sie wird sich niemals auf einen solchen Kampf einlassen."

„Wer ist mein Vater, Sienna?", wollte Tonya nun wissen.

„Dein Vater ist Elian Silvan. Er war der Alpha des Silver-Rudels", verriet Sienna leise. „Das Silver-Rudel wurde durch Verrat vernichtend geschlagen. Bitte behalte dieses Wissen für dich, Tonya. Es gibt immer noch Mächte, die alles tun würden, dich umzubringen, wüssten sie, dass du die Tochter von Elian und Lisandra Silvan bist."

„Dann darf ich auch den Namen Trischa nie tragen?"

„Nun ja. Nur du und ich wissen, dass Luna Lisandra dir diesen Namen gegeben hat", flüsterte Sienna. „Aber du hast gut daran getan, auch hier deinen wahren Namen bisher zu verschweigen. Du solltest auch weiterhin den Namen Tonya tragen, denn du ehrst damit auch das Mädchen, deren Platz du eingenommen hast."

Sienna stand auf und reichte Tonya hilfreich die Hand.

„Komm", sagte sie leise. „Steh auf und tu, was du tun musst. Rette deinen Seelengefährten und dann mache dich auf den Weg. Das Silver-Rudel hatte sein Revier weit im Südosten. Wenn du dorthin gehst, wirst du deine Wurzeln finden. Du brauchst sie, um die Kraft, die in dir schlummert, zu verstehen und beherrschen zu können. Vertraue deinem Gefühl und deiner Intuition. Doch vergessen nie, dich bedeckt zu halten. Je weniger deine wahre Herkunft wissen, umso sicherer bist du. Und jetzt geh."

Suche, Tonya!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt