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Sienna hatte Glück. Durch den Kampf zwischen dem Forster-Rudel und den Rudellosen, waren nur noch die Hälfte der Rudellosen im Niemandsland unterwegs. Und von denen leckten sich einige noch immer ihre Wunden. Ohne gesehen zu werden gelang es Sienna, die Strecke durch den östlichen Wald des Niemandslandes bis zur Grenze zum Welter-Rudel zurückzulegen.

Erleichtert atmete sie auf, als sie die Grenze erreichte. Obwohl sie noch nie hier gewesen war, war sie sich dessen sicher, denn sie konnte nun Gerüche fremder Wölfe riechen, während die muffigen und modrigen Gerüche der Rudellosen fast schon komplett verschwunden waren.

Noch war es sehr früh am Tag, doch sie baute darauf, relativ schnell von den Grenzposten der Welter-Wölfe entdeckt zu werden, die sicher auch des nachts in den Wäldern Streife liefen. Sienna war sich sehr sicher, dass diese Wölfe sie auf schnellstem Weg zum Hauptquartier bringen würden, also genau dorthin, wo sie hinwollte.

Es dauerte in der Tat nicht sehr lange, bis einer der Grenzwachen ihren Duft entdeckte und einen zweiten Wolf alarmierte. Gemeinsam folgten sie dem fremden Duft. Zwei kampferprobte Wölfe gegen eine Wölfin, für die beiden bedeutete dies keine Gefahr. Sie hatten es nicht einmal eilig, der Wölfin zu folgen, denn sie versuchte nicht, ihre Spur zu verbergen. Nur kurz folgten sie ihr in großem Abstand, dann war ihnen auch das Ziel der Wölfin klar. Jetzt erst wurden sie schneller und kurz darauf sahen sie sie schon vor sich.

Sie hatten sie fast schon erreicht, als Sienna die beiden Wölfe bemerkte. Schnell legte sie sich auf den Boden und gestattete den Wölfen sie zu beschnuppern. Dann erst verwandelte sich einer der Wölfe. Der große schlanke Mann mit langen dunkelblonden Haaren blickte die Wölfin aufmerksam an.

„Verwandle dich", befahl er. „Sag, wer du bist, wohin du willst, und warum du hier bist."

Sienna gehorchte. „Ich bin Sienna und ich möchte zu Beta Joris."

„Du kennst den alten Beta Joris?", fragte der Mann erstaunt und blickte zu seinem Kameraden, der immer noch in seiner Wolfsgestalt die fremde Frau nicht aus den Augen ließ.

„Er lebt doch noch, oder?", fragte Sienna hoffnungsvoll.

„Ja", nickte der Mann bedächtig. „Aber er ist schon einige Zeit nicht mehr unser Beta. Wer bist du und was willst du von ihm?"

„Ich brauche seine Hilfe", erwiderte Sienna entschlossen. „Bitte sagt ihm, die Sienna, der er vor achtzehn Jahren geholfen hatte, möchte gerne mit ihm reden."

„Und du bist dir sicher, dass er dich wirklich sehen will?", bezweifelte der Mann.

„Absolut sicher", nickte Sienna.

Sekundenlang starrte der Mann sie zweifelnd an, doch Sienna senkte nicht ihren Kopf, sondern blickte ihn offen an.

„Nun gut", brummte der Mann. „Verwandle dich und folge mir."

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Fast zur selben Zeit saß Tonya eingewickelt in ihrem Umhang weit oben in einem Baum und beobachtete von dort die Wölfe, die aufmerksam schnüffelnd durch den Wald liefen.

Sie hatte sehr schnell bemerkt, dass sie verfolgt wurde und war deshalb deutlich schneller gelaufen. Obwohl sie sehr müde war, zwang sie sich weiter zur Aufmerksamkeit.

Und das Glück war erneut auf ihrer Seite. Sie entdeckte ein schmales Bächlein, das träge durch den Wald floss. Es führte eiskaltes Wasser, half aber dabei, ihre Spur verschwinden zu lassen. Noch immer in ihrer Wolfsgestalt lief Tonya ein weites Stück in dem Bächlein nach Osten, bis sie mehrere Zirbelkiefern entdeckte. Einer der uralten Bäume stand so nahe am Bach, dass Tonya in ihrer menschlichen Gestalt gerade noch den untersten Ast erreichen konnte.

Schnell hatte sie sich verwandelt, auf diesen Ast geschwungen und war vorsichtig weiter nach oben geklettert, bis sie zwischen den nadelführenden Ästen und Zweigen verschwunden war. Sorgfältig eingewickelt in ihrem dunklen Umhang war sie dort von unten nicht mehr zu sehen. Geduldig wartete sie mit geschlossenen Augen und lauschte. Auch wenn ihr Gehör in ihrer menschlichen Gestalt schwächer war, konnte sie bald das Nahen ihrer Verfolger hören.

Das Wasser hatte ihren Geruch schon längst weggeschwemmt und die Zirbelkiefer hatte selbst einen sehr starken würzigen Eigengeruch. Solange ihre Verfolger ihre Nasen links und rechts des kleinen Baches zwischen die niedrigen Pflanzen steckten und dort nach ihr suchten, dürfte sie oben in ihrem Versteck sicher sein.

Tonya lauschte angestrengt und hochkonzentriert. Ihre Verfolger hatten sich aufgeteilt. Wieviel Wölfe am Anfang auf ihrer Fährte waren, wusste sie nicht genau, aber es waren mehrere gewesen. Jetzt konnte sie nur noch die leisen Geräusche von maximal drei Wölfen wahrnehmen. Wahrscheinlich waren die anderen bachaufwärts nach Westen gezogen. Doch diese drei Wölfe waren schon in unmittelbarer Nähe und gleich darauf konnte Tonya bereits ihre Umrisse erkennen und beobachten.

Sie hatte richtig gehört, es waren tatsächlich nur drei Wölfe, die ihre Nasen angestrengt schnüffelnd auf die Erde richteten und links und rechts des Baches nach dem Geruch der fremden Wölfin suchten. Einer der Wölfe hob kurz den Kopf und sicherte nach allen Seiten. Tonya hielt die Luft an und zog den dichten Stoff ihres Umhanges enger um sich, so dass nur noch ihre Augen und ihre Nase zu sehen waren.

Ihre Tarnung reichte und Tonya atmete auf. Langsam zogen die Wölfe weiter, ihre Nasen weiterhin aufmerksam auf den Boden gerichtet. Jetzt erst gönnte sich Tonya ausgiebig zu gähnen. Sie war sehr müde. Sorgfältig versuchte sie sich zwischen drei starken Ästen weitgehend gemütlich einzurichten, dann schloss sie die Augen und war kurz darauf eingeschlafen.

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Sienna dagegen folgte noch immer diesem großen Wolf. Mittlerweile aber hatte sich ein weiterer Wolf ihnen angeschlossen und lief, wie der zweite, hinter Sienna her.

Noch war es Nacht, als sie den Innenhof des Rudelhauses erreichten. Trotzdem wurden sie bereits erwartet. Yara stand bereit und reichte Sienna einen Umhang. Dann führte sie sie in eines der Gästezimmer. Sie bot Sienna an, sich im angrenzenden Badezimmer frisch zu machen, während sie noch etwas zu Essen und zu Trinken holen würde. Dann solle sie sich noch etwas ausruhen.

Man würde sie aufwecken und holen, sobald die Rudelführung sie empfangen könne. Sienna nickte. Sie war fast die ganze Nacht durchgelaufen und konnte jetzt wirklich etwas Ruhe brauchen. Beruhigt, ihr Ziel ohne Probleme erreicht zu haben, schlief sie ein.

Suche, Tonya!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt