Tonya hatte zwar ganz gut geschlafen, doch eingekeilt zwischen den Ästen hatte sie wenig Bewegungsfreiheit und fühlte sich deshalb nun steif. Vorsichtig streckte sie ihre Glieder, während sie sich aufmerksam umsah. Es gab nichts, was ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. Sie schloss die Augen und lauschte, doch sie konnte auch nichts Verdächtiges hören.
Jetzt erst realisierte sie, wie weit sie in der Nacht doch nach oben geklettert war. Der Baum, auf dem sie saß, war mit Sicherheit schon sehr alt und so hoch, dass sie teilweise bereits über die Baumspitzen hinwegblicken konnte. Auch die Berge konnte sie sehr deutlich sehen. Wenn sie zügig weiterlief und keine Hinternisse im Weg standen, würde sie vielleicht noch etwa eine Stunde bis dahin brauchen.
Aber sie musste auch jagen gehen. Obwohl, es wäre nicht das erste Mal, dass sie drei oder gar vier Tage nichts gegessen hatte. Notfalls würde sie das Knurren in ihrem Magen ignorieren, wenn es für sie gefährlich sein könnte zu jagen. Wichtiger war, die Berge zu erreichen.
Dann stutzte sie. Sie hörte Wölfe heulen. Suchten sie immer noch nach ihr? Wenn, dann suchten sie weit im Osten. Ob die Wölfe, die dem kleinen Bach nach Westen gefolgt waren, schon umgekehrt waren? Sie hatte mindestens fünf oder sechs Stunden geschlafen. Die Grenze des Sander-Reviers im Westen konnte maximal zwei Stunden von hier entfernt sein. Allerdings wusste sie nicht, woher der Bach tatsächlich kam. Würde er aus dem Süden kommen, könnte es sein, dass sie durchaus den umkehrenden Wölfen begegnen konnte, denn ihr Weg führte ebenfalls nach Süden. Doch die Wölfe, deren Heulen sie gerade gehört hatte, waren sehr weit weg und ihr Heulen kam nicht aus der Richtung, in die sie gehen wollte.
Egal. Sie würde es wagen müssen, wenn sie nicht noch weitere Stunden eingeklemmt zwischen den starken Ästen der Zirbelkiefer sitzen wollte. Kurzentschlossen kletterte sie hinunter, schnürte sorgfältig ihr Bündel, verwandelte sich und lief los. Stetig bewegten sich ihre Ohren und versuchten selbst die kleinsten Geräusche wahrzunehmen. Immer wieder blieb sie kurz stehen, hob ihre Nase und witterte nach allen Seiten bevor sie langsam weiterlief, immer bedacht darauf, selbst so wenig wie möglich Geräusche zu verursachen. Bisher hatte sie Glück.
Das Glück blieb auch weiterhin auf ihrer Seite, denn es fing an zu regnen. Gut für sie, denn der Regen wusch Schmutz, Staub und auch Gerüche ab und vernichtete dadurch ihre Spuren. Nachteilig war allerdings, dass dadurch der Weg glitschig wurde und Tonya deswegen noch langsamer vorwärts kam. Außerdem verschluckte das Trommeln der Regentropfen ziemlich viele Geräusche, auch die, die ihr eventuell Gefahr signalisieren konnten. Trotzdem gelang es ihr, die ersten Ausläufer der Berge unbemerkt zu erreichen.
Noch immer regnete es in Strömen. Tonya schüttelte das Wasser aus ihrem Fell, nur um gleich darauf wieder durchnässt zu sein. Gut nur, dass ihr Fell so dicht und die Haare ihres Felles so gut mit Fett überzogen waren, dass das Wasser nicht bis auf ihre Haut gelangen konnte. Aber das Bündel auf ihrem Rücken war nun klatschnass.
Sie lief ein Stück am Fusse des Berges entlang, bis sie ein Weg entdeckte, der in die Berge hinein zu führen schien. Doch egal wohin er führte, sie hoffte, er führte sie in einen Bereich, in dem sie sicher war und sich zunächst verbergen konnte. Vielleicht, sie wagte nicht zu hoffen, vielleicht führte gerade dieser Weg dorthin, wo sie die Hexe finden konnte.
War nicht die Rede davon, dass es mehrere Täler in den Bergen gab und niemand wusste, in welchem genau die Hexe lebte? Das erste Tal jedenfalls hatte sie sicher erreicht. Also beschloss Tonya zuerst auch dieses Tal zu durchsuchen, bevor sie sich auf den Weg zum nächsten machte.
Der Regen hatte nachgelassen. Es tröpfelte nur noch leicht. Erneut schüttelte sich Tonya das Wasser aus dem Fell. Sie schüttelte sich so heftig, dass ihr Bündel sich löste und auf den Boden fiel. Obwohl der Umhang aus verfilztem Stoff durchaus wasserabweisend war, hatte er sich doch nach Stunden im Regen mit Wasser vollgesogen und war entsprechend schwer geworden. Sie würde ein Platz finden müssen, wo sie das Bündel aufschnüren und den Umhang zum Trocknen auslegen konnte.
Vorerst aber trug sie ihr Bündel noch ein ganzes Stück weiter in das schmale Tal hinein, bevor sie es zwischen einigen Felsen ablegte und mit einigen Steinen abdeckte. Dann lief sie weiter. Je weiter sie in das Tal hineinlief, umso breiter wurde es. Dann machte das Tal einen Knick und als Tonya um die Ecke bog, konnte sie den Rest des Tales überblicken.
Es war ein langgezogenes breites Tal, das am anderen Ende spitz zulief. Wahrscheinlich hatte es hier vor langer Zeit noch einen Weg gegeben, der noch weiter in die Berge hineinführte. Doch dieser Weg existierte nicht mehr, er war durch eine Steinlavine verschüttet worden. Das ganze Tal war uneben und sehr steinig und nichts deutete darauf hin, dass hier jemand lebte oder jemals jemand gelebt hätte.
Enttäuscht wollte sie sich gerade umdrehen, als sie den Ruf eines Falken hörte. War nicht einer der Alphas von einem Falken angegriffen worden? Jetzt spinnst du aber, schalt sie sich selbst. Das war vor ewig langer Zeit gewesen. Aber vielleicht konnte sich die Hexe...? Schnell schüttelte sich Tonya. Was für ein idiotischer Gedanke. Wie sollte sich ein Mensch in einen Falken...? Aber sie konnte sich doch auch in ein Wolf verwandeln, warum also sollte ein Mensch, nein kein Mensch, eine Hexe, sich nicht ebenfalls verwandeln können? Aber dann müsste es doch auch möglich sein, dass sich diese Hexe in einen Falken verwandeln konnte?
Tonya schnaubte und beobachtete den Falken, den sie sehr schnell entdeckt hatte. Er kreiste über dem Tal. Doch als er sie entdeckte, änderte er seine Flugroute und näherte sich ihr, kreiste kurz über ihr und entfernte sich wieder.
Tonya stutzte und krammte in ihrem Gedächtnis. Was wusste sie über Falken? Falken waren Greifvögel und jagten andere kleinere Vögel oder kleine Säugetiere. Ein Wolf passte definitiv nicht zu seinem Beuteschema. Warum also sollte ein wildlebender Falke sich ihr neugierig nähern? Er hätte sie im Normalfall als Bedrohung angesehen, sich irgendwo auf einem Aussichtsplatz hingesetzt, sie misstrauisch beobachtet und gewartet, bis sie sich entfernt hätte, aber er wäre nicht zu ihr geflogen, als wolle er sie genauer betrachten.
Noch immer kreiste der Falke über ihr, als wolle er unter allen Umständen erreichen, dass sie ihn weiter beobachtete. Erst als er sich dessen sicher schien, flog der Falke so hoch hinauf, dass er über den Bergkamm nach Osten weiterfliegen konnte.
Tonya zögerte. Wurde sie langsam verrückt? Ihr Gefühl sagte ihr, sie müsse in das nächste Tal gehen, in der Richtung, in die der Falke geflogen war. Und ihr Verstand sagte, dass der Falke einfach nur ein ganz normaler Falke war, der hier irgendwo in den Felsen sein Horst hatte und nun im Frühjahr alles für die Brut vorbereiten würde. Nichts mehr, aber auch nichts weniger.
Warum aber drängte alles in ihr, jetzt sofort umzudrehen und dem Falken zu folgen?
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Suche, Tonya!
LobisomemWas war bei ihrer Geburt wirklich geschehen? Warum hatte ausgerechnet sie diesen Talisman erhalten? Warum hatte sie das Gefühl, dieser Mondstein bedeutete etwas? So viele Fragen und keine Antwort darauf. Tonya wollte sich nicht einfach so unterordne...