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Zum zweiten Mal in ihrem Leben befand sich Tonya in einem Kerker. Der Kerker unterhalb dem Rudelhaus des Sander-Rudels war deutlich feuchter als der beim Forster-Rudel. In einer dunklen Ecke stand ein Eimer, in den sie sich erleichtern konnte und in der anderen dunklen Ecke hing eine Pritsche an Ketten an der Wand. Zwei Decken lagen darauf, schmutzig und zerschlissen.

Ihr selbst hatte man nur einen dünnen Umhang gegeben, mit dem sie sich bedecken konnte, nachdem man sie aufgefordert hatte, sich zu verwandeln. Das Lederband um ihren Hals mit dem Talisman und dem Säckchen mit dem Mondstein hatte man ihr abgenommen. Stattdessen trug sie ein Halsband, welches eine Verwandlung verhinderte. Zusammengekauert saß sie auf etwas Stroh auf dem kalten Steinboden und hatte ihre Arme fest um ihre Knie geschlungen.

Wie lange würde sie diesmal ausharren müssen? Sie lauschte den Geräuschen. Mit geschlossenen Augen saß sie da, hochkonzentriert und lauschte den Geräuschen. Genauso hatte sie es früher mit ihrem Bruder Max gemacht. Wie oft hatte sie darum gebettelt, dass er sie mit in den Wald nahm? Das war noch zu der Zeit, als sie ihre Wölfin Yani bereits kannte, aber nach Meinung ihrer Eltern noch nicht alt und erfahren genug war, allein im Wald zu laufen. Damals war sie wütend gewesen über diese Bevormundung. Heute war sie glücklich darüber, dass ihre Eltern so waren, wie sie waren.

Und plötzlich rannen ihr Tränen über die Wangen. Melli und David waren nicht ihre Eltern und Max war nicht ihr Bruder. Gefühlt schon, aber in Wirklichkeit war sie nicht einmal mit ihnen verwandt. Max wusste es nun, alle anderen Mitglieder der Familie Burmann wussten es noch nicht. Sollte sie ihnen alles erzählen? Wie würde ihre Mutter – wie würde Melli darauf reagieren?

Energisch wischte sie sich die Tränen ab. Jetzt im Moment war es nicht wichtig, sich zu überlegen, ob sie den Burmännern die Wahrheit sagen sollte oder nicht. Jetzt im Moment war es wichtig, zu überlegen, wie es weitergehen sollte.

‚Yani', rief sie leise ihre Wölfin. Doch sie antwortete nicht.

‚Yani, bitte', versuchte sie es nochmals. Doch wieder antwortete sie nicht.

Seit sie ohne Hendrik weitergezogen war, hatte sie sich nicht mehr gemeldet. Tonya hörte tief in sich hinein, doch Yani hatte sich so weit zurückgezogen, dass sie sie nicht einmal mehr spüren konnte.

‚Yani, es tut mir leid', sagte Tonya in der Hoffnung, dass sie vielleicht doch zuhörte. ‚Ich muss wissen, wer ich bin, verstehst du das nicht? Ich soll Kräfte haben, besondere Kräfte. Aber was sollen das für Kräfte sein? Welche Kräfte könnten so mächtig sein, dass es Wölfe gibt, die einen umbringen wollen? Ich weiß, dass Hendrik mich beschützen würde. Aber solange ich nicht weiß, was das für Kräfte sind, könnte ich vielleicht für ihn zur Gefahr werden. Und das darf nicht sein.'

Von Yani war noch immer nichts zu hören. Tonya seufzte. Irgendwann musste ihre Wölfin doch einsehen, dass sie unbedingt Antworten auf ihre Fragen finden musste. Sie würde sonst keine Ruhe finden. 

Irgendwo raschelte es leicht. Vielleicht waren es Mäuse oder Ratten. Tonya schüttelte sich angewidert. Vielleicht waren es aber auch Gefangene in anderen Kerkerzellen, die sich im Stroh hin und her wälzten. Dass weitere Gefangene im Kerker eingesperrt waren, konnte sie hören. Einige von ihnen stöhnten leise, als hätten sie Schmerzen. Andere murmelten sinnloses und unverständliches Zeug vor sich hin, als hätte die Gefangenschaft sie bereits ihres klaren Verstandes beraubt.

Außerdem konnte sie auch etwas tropfen hören, ganz leise nur. Eigentlich sollten Geräusche in einem Gewölbe wie diesem hier laut und deutlich zu hören sein. Dass sie es nur ganz leise hörte, konnte nur bedeuten, dass die Stelle, an der das Wasser heruntertropfte ziemlich weit weg sein musste. 

Ihr war kalt. Also stand sie auf, holte die zerschlissenen und löchrigen Decken, suchte noch etwas mehr Stroh zusammen und machte sich so klein wie möglich. Wer wusste schon, wie lange sie diese Kälte ertragen musste. Irgendwie glaubte sie nicht daran, ewig hier sitzen zu müssen. Das würde jedenfalls nicht zu dem passen, was die Wölfe gesagt hatten. Sie wollten Spaß haben mit ihr und es war sehr deutlich gewesen, was diese Wölfe unter „Spaß haben" verstanden. Aber nur ihr Alpha hatte dieses Privileg. Das würde doch sicher bedeuten, dass er sie bald holen würde, eben um Spaß mit ihr zu haben. Der Gedanke daran müsste ihr doch eigentlich große Angst machen, aber sie verspürte keine Angst, warum nicht?

Und dann hörte sie Schritte, die zügig näherkamen. Schritte von mehreren Männern. Gleich darauf wurde die Zellentür aufgerissen und mehrere Männer betraten ihre Kerkerzelle. Wow, grinste Tonya innerlich. Sie mussten sie schon für eine sehr gefährliche Bestie halten, wenn gleich – eins, zwei, drei – vier kräftige Typen notwendig waren, um sie in Schach zu halten. Tonya wurde unsanft hochgezogen und zur Tür geschoben. Die Typen waren nicht sonderlich freundlich. Ganz im Gegenteil, sie warfen ihr mürrisch lüsterne Blicke zu.

Jetzt grinste Tonya innerlich noch stärker. Ihr war gerade ein ganz anderer Gedanke gekommen. Vielleicht traute der Alpha seinen Männern nicht. Vielleicht schickte er deshalb gleich vier Männer los, damit diese schwanzgesteuerten Ungeheuer sich gegenseitig unter Kontrolle halten konnten. Gerade noch konnte sie sich ein Lachen verkneifen. Stattdessen hustete sie kurz und ging mit demütig gesenktem Kopf hinter einem dieser Typen hinterher.

Kaum hatte sie die Kerkergewölbe verlassen und waren in den Eingangsbereich des Rudelhauses getreten, wurde Tonya bereits hofiert. Gleich drei Damen nahmen sie in ihre Mitte und zogen sie in den letzten Raum des Flurs. Es war ein Badezimmer.

Fast willenlos, getreu der Rolle eines braven, folgsamen Mädchens, ließ Tonya die Prozedur über sich ergehen. Eine halbe Stunde später stand sie gewaschen, eingecremt und in einem wollweißen Kleid mit dunkelgrünem Umhang bereit. Und wieder wurde sie, begleitet von diesen vier Typen, weggeführt.

Sie verließen das Rudelhaus, überquerten einen großen Platz und betraten einen Parkähnlichen Garten gegenüber. Gleich darauf entdeckte Tonya ein großes Haus, an dessen Tür bereits eine Hausdame mit kleinem Schürzchen stand. Sie führte sie in einen großen Salon, nickte ihr mürrisch zu und ging wieder.

Seit man sie aus dem Kerker herausgeholt hatte, hatte niemand auch nur ein einziges Wort mit ihr gesprochen. Aber ihre Gedankengespräche untereinander waren aufschlussreich gewesen.

Die Männer hatten sie mit den Augen ausgezogen und es mit ihr in ihren Gedanken in allen möglichen und unmöglichen Positionen getrieben. Zeitgleich aber unterstellten sie ihrem Alpha, dass er genau das mit ihr vorhabe. Wie es schien, hatte er noch immer nicht seine Mate gefunden. Einer der Typen aber behauptete, dass er durchaus seine Mate kennen würde, er habe sie aber abgelehnt und sie gezwungen, die Ablehnung zu bestätigen. Damit war er wieder frei um sich jede gewünschte Wölfin zu nehmen.

Die Frauen bestätigten den Verdacht der Männer. Es war wohl nicht das erste Mal, dass sie eine Wölfin in Empfang nahmen und sie für ihren Alpha vorbereiteten. Grimmig presste Tonya ihre Lippen zusammen. Bei ihr würde sein Schwanz trocken bleiben und nicht einmal zucken, schwor sie.

Suche, Tonya!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt