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Sunja war nicht gerade sehr erfreut, als sie am nächsten Morgen Tonya am Frühstückstisch im Alphahaus sitzen sah. Mißtrauisch beäugte sie sie, während sie sich einige Stühle entfernt langsam setzte.

„Was macht sie hier?", fragte sie mürrisch, ohne Tonya aus den Augen zu lassen.

„Tonya wird einige Zeit unser Gast sein", erklärte Amira.

„Bist du da sicher?", knurrte Sunja und funkelte Tonya argwöhnisch an. „Sie ist eine Alpha-Wölfin."

„Bin ich nicht", verteidigte sich Tonya. „Ich bin eine ganz normale Wölfin, aber eben nur eine, die sich nicht zu etwas zwingen lässt, was sie nicht will. Das ist doch mein Recht. Außerdem habe ich kein Interesse daran, ein Rudel zu übernehmen. Ich habe nicht die Absicht für immer hier zu bleiben."

Sunja und Tonya starrten sich an.

„Tonya ist bereit, das Ihre für die Sicherheit des Rudels zu tun, solange sie als Gast hier sein wird", sagte Amira schließlich und lächelte Sunja an. „Du bist die Beta-Wölfin, Sunja, und das wird auch so bleiben. Tonya ist bereit, Wachdienst zu leisten und für die Einteilung der Wachen bist du zuständig."

„Ich würde dich gerne auch beim Trainieren der Rudelmitglieder unterstützen", bot Tonya an. „Ich habe nicht nur in der Schule, sondern auch mit meinem Bruder trainiert und könnte euch vielleicht einige Tipps geben."

„Ich traue dir nicht", murrte Sunja.

„Ich weiß", nickte Tonya. „Wahrscheinlich würde ich an deiner Stelle genauso reagieren. Aber ich bitte dich, mir eine Chance zu geben."

„Sunja ist grundsätzlich misstrauisch", verteidigte Amira ihre Beta-Wölfin.

„Das ist nicht falsch", nickte Tonya verstehend. „Jeder von uns tut gut daran, zunächst vorsichtig zu sein. Vertrauen ist ein großes Gut. Man muss es sich erarbeiten."

Sunjas Miene wurde etwas weicher, als sie Tonyas Worte hörte. Sie war genau derselben Meinung. Ihr Leben war hart genug gewesen. Sie war nicht nur einmal missbraucht und getäuscht worden und hatte mühsam und schmerzhaft lernen müssen, niemandem einen Vertrauensvorschuss mehr zu geben.

Amira war sehr froh über Sunjas Haltung. Auch sie hatte von ihrer Vorsicht und ihrem Misstrauen bereits profitiert. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte Sunja eine Wölfin als Verräterin enttarnt. Diese Wölfin hatte zwar nicht für einen der Rudel außerhalb des Niemandlands spioniert, aber sie war die Schwester eines der Rudellosen. Gemeinsam mit ihrem Bruder war sie aus dem Rudel verstoßen worden. Niemand hatte je erfahren warum. Ihr Bruder zog mit den anderen Rudellosen plündernd und mordend durch das Niemandsland, sie selbst suchte Schutz im Wölfinnenrudel.

Nur Sunjas Aufmerksamkeit war es zu verdanken, diese Wölfin, ihren Bruder und zwei weitere Rudellose rechtzeitig zu erwischen, bevor sie die Vorratskammern im Rudelhaus plündern konnten. Die Rudellosen wurden getötet und auch die Wölfin hatte ihren Verrat nicht überlebt.

Das war nicht der erste Angriff auf das Rudel der Wölfinnen und sie taten gut daran, stets wachsam zu sein. Bislang allerdings erfolgten die Angriffe nur von Rudellosen. Die Wölfe aus den angrenzenden Gebieten hatten bisher das Niemandsland gemieten.

Einen Angriff durch ein großes Rudel, welches gut vorbereitet war, würden sie wahrscheinlich nicht überleben. Die Rudellosen selbst waren viel zu selbstherrlich und zu egoistisch, um sich gut zu organisieren. Selbst unter kleinen Gruppen herrschte oft Uneinigkeit über gemeinsame Ziele oder Vorgehensweisen. Die Angriffe solcher kleinen Gruppen konnten schmerzhaft sein, denn die Rudellosen waren stark und vor allem rücksichtslos. Aber wenn sie aufmerksam waren und sofort reagieren konnten, hatten sie gute Chancen, diese wirksam abzuwehren.

„Du kannst kämpfen?", fragte Sunja. Sie war nun doch neugierig geworden. Tonyas Abgang und der Grund, weshalb sie ausgestoßen wurde, hatte sich herumgesprochen, auch, dass sie in der Schule eine der sportlichsten Mädchen war und stets mit den Jungs zusammen trainiert hatte, aber dass sie kämpfen konnte, so richtig kämpfen, das wusste niemand sicher zu berichten.

„Ich bin mit Brüdern aufgewachsen", erzählte Tonya lächelnd. „Mein ältester Bruder Max kämpft mittlerweile bei der Eliteeinheit des Alphas und er hat auch mich trainiert."

„Unsere Kämpferinnen sind gerade beim Training", lächelte Amira. „Du solltest Tonya mit zum Trainingsplatz nehmen", forderte sie Sunja auf.

Sunja war noch nicht wirklich überzeugt davon, Tonya vertrauen zu können, aber sie gehorchte Amira und verließ, gefolgt von Tonya das Alphahaus.

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Noch immer saß Amira am Frühstückstisch und starrte nachdenklich auf ihre Kaffeetasse. Ob es klug war, Tonya zu vertrauen? Sie hatte genauso wie Sunja die Kraft in Tonja gespürt und war überzeugt davon, dass ihr Gast Alphablut in sich hatte. Warum aber hatte Tonya das abgestritten? Sie musste mehr über ihren Gast erfahren.

Aprupt stand Amira auf und verließ das Alphahaus. Sie überquerte den großen Platz vor dem Rudelhaus und klopfte an die Haustür am Haus gegenüber. Gleich darauf öffnete sich die Tür und eine ältere Frau blickte ihr eher scheu entgegen.

„Alpha", nickte die Frau und trat sofort zurück um die Tür freizugeben.

„Ich muss mit dir reden, Sienna", sagte Amira und trat ein.

Sienna führte die Alpha-Wölfin in die Küche und bot ihr etwas zu trinken an. Doch Amira lehnte ab.

„Erzähle mir alles, was du über Tonya weißt", forderte sie Sienna auf und setzte sich erwartungsvoll an den Tisch.

„Nun", begann Sienna und setzte sich neben Amira an den Tisch. Entspannt schloss sie die Augen. Sie legte die Fingerspitzen von Zeigefinger und Mittelfinger an ihre Schläfen und atmete konzentriert ein und aus. Ihre Atmung wurde langsamer während sie wie erstarrt am Tisch saß. Amira beobachtete sie aufmerksam, verhielt sich aber äußerst still und wartete. Schließlich senkte sie ihre Hände, atmete wieder normal und öffnete die Augen.

„Alles was ich über Tonya weiß, habe ich dir bereits gesagt", fuhr Sienna fort. „Tonya ist mit vier Brüdern aufgewachsen. Sie ist stark aber sie hält sich an Regeln, solange es sich um Regeln handeln, die das Rudel bzw. den Umgang der Rudelmitglieder untereinander betreffen. Geht es um sie selbst, lässt sie sich nichts befehlen."

„Ist sie eine Alpha-Wölfin?", fragte Amira nun direkt.

„Weder in Mellis Familie noch in Davids Familie gab es Alpha-Blut", entgegnete Sienna.

„Was hat sie vor?"

„Das weiß ich nicht, Alpha", antwortete Sienna leise. „Ich habe gesehen, dass es zu einem Kampf kommen wird. Und ich habe gesehen, dass Tonya auf unserer Seite kämpfen wird. Aber was genau Tonya für ihre Zukunft plant, kann ich dir nicht sagen. Wenn du mir erlaubst, werde ich versuchen, Kontakt zu ihr aufzubauen und ihr Vertrauen zu erlangen. Vielleicht spricht sie mit mir über ihre Pläne."

„Du sagst, es wird zu einem Kampf kommen?", hakte Amira alarmiert nach. „Wann? Und gegen wen?"

„Nicht in den nächsten Tagen. Nicht vor der Wintersonnwende", flüsterte Sienna. „Wann aber genau, kann ich dir nicht sagen. Er wird Tonya holen wollen."

„Alpha Hendrik?", fragte Amira und schnaubte, doch Sienna schüttelte leicht den Kopf.

„Nicht?", erstaunt zog Amira ihre Augenbrauen hoch. „Er will seine Mate nicht zurück haben?"

„Er hat nicht die Leitung des Rudels", entgegnete Sienna leise und Amira nickte verstehend.

„Vielleicht sollte ich Tonya auffordern zu gehen", überlegte Amira.

„Das würde den Kampf nicht verhindern", sagte Sienna mit solcher Sicherheit, dass Amira sie geschockt anstarrte.

„Können wir ihr vertrauen?", fragte sie schließlich.

„Du musst ihr vertrauen", antwortete Sienna bestimmt.

„Rede mit ihr. Versuche ihr Vertrauen zu gewinnen und finde heraus, was sie plant. Und das so schnell wie möglich", befahl Amira leise, stand auf und ging.

Suche, Tonya!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt