Epilog

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Erst als er die Senke und die Sträucher erreichte und von der Grenze aus nicht mehr zu sehen war, rannte er los. Er rannte so schnell, als würde es um sein Leben gehen. Er rannte nur deswegen so schnell, um seinem Wolf Rex keine Chance zu geben, einzugreifen.

‚Du hast unsere Mate im Stich gelassen', brüllte dieser, doch Hendrik ignorierte ihn und rannte weiter.

Er bekam nicht mit, wie Tonya mit stolz erhobenem Haupt sich ihrem Bruder zuwandte, ihre Hand in seinem Nackenfell festkrallte und ihn mit sich zog. Agnis und Sienna folgten ihnen. Die Wölfe des Ostram-Rudels blieben aufmerksam an der Grenze stehen und deckten den Rückzug ihres Alphas und der Frauen.

Hendrik bekam auch nicht mit, wie Alpha Turkan zunächst noch fassungslos Tonya hinterher blickte und dann seine Aufmerksamkeit Alpha Anton zuwandte, der nach dem ersten Schock sich verwandelt hatte und Hendrik hinterher rannte. Ein Teil seiner Männer blieb zurück und sicherten die Grenze. Die anderen Wölfe folgten den beiden Alphas.

Hendrik rannte. Er bemerkte zwar Alpha Anton, der wütend knurrend hinter ihm her hetzte, aber er ignorierte auch ihn.

Nur langsam gelang es Alpha Anton, ihm näher zu kommen. Weit weg von der Grenze holte er ihn schließlich ein und brachte ihn mit einem mächtigen Sprung zu Fall. Sie überschlugen sich und kamen fast zeitgleich wieder auf die Pfoten. Schwer atmend und drohend knurrend stand Alpha Anton Hendrik gegenüber und es war ihm deutlich anzumerken, dass er sich kaum noch vor Wut halten konnte.

Zähnefletschend starrte er Hendrik an. Doch Hendrik wollte nicht kämpfen. Er wich einige Schritte zurück und verwandelte sich. In seiner menschlichen Gestalt blickte Hendrik ruhig Alpha Anton an, wich aber nicht weiter zurück. Wie schon einmal standen sich die beiden Alphas gegenüber. Nur dieses Mal war es Hendrik, der mit ruhiger Alpha-Dominanz den immer noch zornigen Alpha Anton in Schach hielt und dafür sorgte, dass sich dieser langsam beruhigte.

Mittlerweile hatten auch Florian, Anton und die anderen Wölfe aus dem Welter-Rudel die beiden eingeholt. Aufmerksam beobachtend stellten sie sich im Kreis um sie herum auf, hielten aber respektvoll Abstand. Was auch immer passieren würde, sie würden nicht eingreifen. Was auch immer passieren würde, ginge nur die beiden Alphas an. Aber sie beobachteten jede Regung der beiden mit unverhohlener Neugierde, erpicht darauf zu erfahren, was geschehen war und warum Hendrik nun doch die Ablehnung seiner Mate angenommen hatte.

Es dauerte, bis sich Alpha Anton halbwegs beruhigt hatte und sich nun ebenfalls verwandelte. Schwer atmend stand er vor Hendrik und funkelte ihn immer noch wütend an.

„Du hast uns nur benutzt", knurrte Alpha Anton vorwurfsvoll.

„Nein."

„Natürlich und du hast uns belogen", brüllte Alpha Anton.

„Nein."

„Ach nein?", fragte Alpha Anton mit beißendem Spott in seiner Stimme. „Wie war das nochmal? Sie würde mich genauso wenig ablehnen wie ich sie. Das waren deine Worte."

„Richtig", nickte Hendrik und lächelte.

„Willst du mich verarschen?", fauchte Alpha Anton.

„Nein", seufzte Hendrik und verdrehte seine Augen. „Tonya hat mich gebeten, mitzuspielen."

„Mitspielen?", fragte Alpha Anton ungläubig.

„Ja. Glaube mir, Alpha Anton. Ich habe meine Kleine nicht wirklich abgelehnt."

„Ach was", Alpha Antons Stimme triefte vor Hohn.

„Du kennst doch die Regeln, Alpha Anton. Um seine Mate abzulehnen, oder eine Ablehnung anzunehmen, ist der Geburtsname notwendig. Sonst funktioniert das nicht."

„So ist es", nickte Anton. „Und wir wissen jetzt doch alle, dass sie eine Silvan ist. Also kennen wir ihren Geburtsnamen."

„Halb richtig", nickte Hendrik und verschränkte gelassen seine Arme vor der Brust. „Doch der Geburtsname besteht nicht nur aus dem Familiennamen. Der Rufname gehört ebenfalls dazu. Tonya ist der Name des Mädchens, an deren Stelle sie aufgewachsen ist. Tonya ist der Name, den Melli Burmann ihrer richtigen Tochter gegeben hat. Aber es ist nicht der Name, den Luna Lisandra ihrer kleinen Tochter gegeben hat. Du siehst, die Ablehnung ist unwirksam. Unser Mateband ist nach wie vor intakt."

Ungläubig starrten alle Hendrik an. Nur Florian nicht. Er fing leise an zu kichern, den er erinnerte sich an Tonyas Erzählung auf der Insel im Moor, als Tonya ihnen offenbarte, dass die wirkliche Tonya Burmann nur Stunden nach ihrer Geburt verstorben war genauso wie Luna Lisandra, ihre Mutter. Dabei hatte Tonya ihren wahren Namen verraten. Wer kannte ihn? Sienna? Klar. Und außer Sienna wussten nur noch Hendrik, Max und er, dass Tonya in Wahrheit Trischa hieß. Aber ansonsten? Niemand. Jeder kannte sie nur unter dem Namen Tonya. Für kurze Zeit trug sie noch einen anderen Namen. Für kurze Zeit nannte sie sich im Rudel der Wölfinnen Patrischa. Aber niemals hatte sie ihren wahren Namen verraten. Welch ein Glück.

„Und warum das ganze Theater", fragte Alpha Anton verständnislos und unterbrach damit Florians Gedanken.

„Sie wollte uns aus der Schußlinie haben", antwortete Hendrik ruhig. „Es lag so viel Aggression in der Luft, die Spannung war greifbar. Ein Funke nur und wir hätten einen ziemlich bösen Kampf gehabt. Bei Alpha Ortwin, oder besser, bei ihrem Bruder Elric Silvan droht ihr keine Gefahr. Und Alpha Elric sah nicht danach aus, als ob er Hilfe gegen Turkan brauchen würde. Und Alpha Turkan hat seine Geisel verloren. Aber nicht an mich. Ich bin ihm also nichts schuldig."

Alpha Anton stand reglos da und starrte Hendrik sprachlos an. Ja, es stimmte, die Situation war explosiv. Jeder wartete angespannt auf den zündenden Funken, den Tonya so einfach gelöscht hatte. Und wenn das stimmte, was Hendrik erzählte, dann war diese kleine Wölfin nicht nur sehr mutig, sondern auch klug.

„Und was jetzt?", wollte Alpha Anton wissen. „Was hast du vor? Kehrst du jetzt etwa zu deinem Rudel zurück?"

„Nein", schüttelte Hendrik lachend den Kopf. „Ich werde erst dann zum Forster-Rudel zurückkehren und meinen rechtmäßigen Platz einnehmen, wenn ich meine Kleine an meiner Seite habe. Noch ist es nicht so weit. Aber bald wird es soweit sein."

„Denkst du?", fragte Alpha Anton zweifelnd.

„Oh ja, ich weiß es. Und deshalb mache ich mich jetzt auf die Suche nach der Hexe in den Silver-Bergen. Und dort warte ich auf sie."

„Und du bist dir sicher, dass sie kommen wird?"

„Ja. Ganz sicher."

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