Die Grenze zwischen dem Welter-Territorium und dem Revier des Sander-Rudels war nicht sehr lang. Sie war gerade mal so lang, dass die Wölfe in ihrer menschlichen Gestalt ihr Gegenüber bei besten Sichtverhältnissen gerade noch wahrnehmen konnten. Doch nur dort konnte eine mögliche Übergabe stattfinden, ohne dass das Ostram-Rudel oder das Minster-Rudel vorab um Erlaubnis gefragt werden musste.
Es war aber davon auszugehen, dass Beobachter beider Rudel in der Nähe sein würden, würde man nicht achtgeben und das Treffen der beiden Rudel an diesem Grenzabschnitt geheim halten können. Doch wie sollte man ein solches Vorhaben, wie die Rückgabe einer Geißel, vor den anderen Rudeln verborgen halten können? Zumal genau dieser Grenzabschnitt plötzlich intensiver kontrolliert wurde.
Zudem war Alpha Turkans Forderung für Tonyas Freilassung äußerst unverschämt. Er wollte mindestens fünf junge Wölfinnen vom Forster-Rudel im Austausch für Tonya erhalten. So viel Wölfe an der Grenze musste doch auf jeden Fall den Wachen der angrenzenden Rudeln auffallen.
Hendrik wäre fast explodiert, als er davon erfuhr. Doch Alpha Anton beruhigte ihn. Er müsse zunächst auf diese unverschämte Forderung eingehen, meinte er, denn nur so hätten sie die Chance, dass Alpha Turkan zusammen mit Tonya zu der Übergabe kommen würde.
Spöttisch hatte Alpha Turkan Tonya mitgeteilt, dass ihr Mate sie wohl dringend zurückhaben wollte. Welche Reaktion er auch immer von Tonya erwartete, damit, dass sie vollkommen unberührt diese Nachricht aufnehmen würde, damit jedenfalls hatte er nicht gerechnet. War er ihr etwa gleichgültig? Wie auch immer. Dieses Mädchen gefiel ihm. Außerdem war er längst schon in dem Alter, in dem es Zeit wurde, sich eine Gefährtin zu nehmen, sie zu schwängern und so seine Linie fortzusetzen.
Tückisch grinste er. Schwer zu glauben, dass der junge Alpha mit den geforderten jungen Wölfinnen auftauchen würde. Zumal er nur zwei Tage Zeit haben würde, um zum Forster-Rudel zurück zu eilen, die Wölfinnen auszuwählen und mit ihnen den ganzen Weg bis zum Übergabeort zurückzulegen. Er hatte also genügend Zeit, um auch beim alten Alpha des Forster-Rudels anzufragen. Durchaus möglich, dass der alte Norman Kaaden deutlich mehr für diese kleine Wölfin springen ließ. Trotzdem würde er zu dieser Übergabe gehen und er würde auch seine Geisel mitnehmen, sie aber in sicherem Abstand halten und neugierig beobachten, wie die beiden Seelengefährten aufeinander reagierten.
Zwei Tage.
Zwei Tage Zeit, in denen Alpha Turkan versuchte, sich Tonya zu nähern. Sie war schön, sie war jung, sie war noch unberührt. Alles Eigenschaften, die er bei einer Frau liebte, so lange, bis er sie hatte. Dann verlor er sein Interesse an der Frau. Diese Frau aber hatte etwas an sich, was ihn bis aufs Blut reizte. Er wollte sie brechen, er wollte sie sich unterwerfen und sie besitzen. Doch immer dann, wenn er vor ihr stand und sie ihn mit ihren abgrundtiefen grünen Augen anstarrte, war seine Lust auf sie plötzlich vergangen. Er schob es auf seine persönliche Stärke, warten zu können. Denn genau das hatte er sich vorgenommen, zu warten, bis diese fingierte Übergabe vorbei war und er seine Geisel für sich beanspruchen konnte bevor er sie für ein deutlich höheres Lösegeld an Alpha Norman abgeben würde.
Zwei Tage Zeit, in denen Tonya über eine Fluchtmöglichkeit nachdachte. Doch Turkan hatte sie in einem Zimmer im obersten Stockwerk des Rudelhauses eingesperrt. Vor ihrer Tür waren stets zwei Wachen postiert. Auch das große Fenster bot keine Fluchtmöglichkeit. Von dort aus hatte sie zwar einen ungehinderten Ausblick auf den Innenhof, aber auch dort hielten sich ständig Wachen auf. So blieb ihr nur, abzuwarten und die Zeit zu nutzen, so viel wie möglich zu erfahren. Sie war freundlich und sanft zu den Frauen, die ihr das Essen brachten und schaffte es dadurch, ihnen die eine oder andere Äußerung über ihren Alpha zu entlocken, ohne dass die Frauen es merkten. Und sie war unterwürfig fügsam zu den Wölfen, die sie immer wieder abholten, um sie ins Büro des Alphas zu bringen. Dabei lauschte sie aufmerksam ihren Gedankengesprächen. Dem Alpha selbst begegnete sie mit sorgfältig versteckter Wut. Ihre Augen blitzten, wann immer sie ihn anblickte und er drehte sich seltsam wütend und steif von ihr weg.
Zwei Tage Zeit.
Es waren aber auch zwei Tage Zeit, in denen die beiden Alphas Anton und Hendrik sowie ihre Betas Florian und Aaron miteinander trainierten und Pläne entwarfen, wie sie Tonya aus den Fängen von Alpha Turkan befreien konnten.
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Nach zwei Tagen machte sich Alpha Turkan mit seinem Gefolge auf den Weg zum Übergabeort, der sich etwa in der Mitte der gemeinsamen Grenzlinie befand. In Sichtweite zur Grenze ließ er anhalten. Tonya war noch immer in ihrer menschlichen Gestalt, das Halsband um ihren Hals und umgeben von mehreren Wölfen, die sie nicht aus den Augen ließen. Langsam, in Begleitung seines Betas, ging Alpha Turkan auf die Grenze zu. Er war zu früh. Noch war Hendrik und sein Gefolge nicht zu sehen. Aber genau das war seine Absicht.
Doch Alpha Turkan täuschte sich. Tief gebeugt in einer Senke, versteckt hinter einigen Büschen, wartete bereits Alpha Anton neben Hendrik und Florian und beobachteten die Grenze und die offene Ebene auf der gegenüberliegenden Seite. Beta Aaron hatte sich mit seinen Männern in einem weiten Bogen um den Treffpunkt auf die Lauer gelegt, neben ihm Sienna, die darauf bestanden hatte, mitzukommen.
Arrogant drehte sich Alpha Turkan um und ging auf Tonya zu.
„Glaubst du wirklich, dass dein Mate bereit ist, den geforderten Preis für dich zu zahlen?", fragte er sie hämisch. „Wohl eher nicht. Oder siehst du ihn?"
Tonya antwortete nicht, sondern hielt ihren Kopf demütig gesenkt. Unsicher blickte Alpha Turkan sie an. Irgendetwas stimmte nicht. Er fühlte eine Kraft, die ihn irgendwie zu hemmen schien, wusste diese Kraft aber nicht einzuordnen. Diese Kraft schien von Tonya auszugehen, doch ihre Körperhaltung demonstrierte Unterwerfung. Auch als seine Hand an ihrem Kinn sie zwang, ihn anzusehen, sah er eine eher ängstliche Miene und furchtsam gesenkte Lider.
Missmutig schnaubte er, drehte sich um und beobachtete die Welter-Seite. Da erst bemerkte er, dass er und seine Männer und ihre Gefangenen von anderer Seite her beobachtet wurden. Der grauschwarze Wolf sah riesig aus. Scheinbar entspannt saß er mit schräg geneigtem Kopf neugierig beobachtend auf der Seite des Ostram-Rudels. Neben ihm saß eine kleine Wölfin, halb so groß wie der große Wolf, die aber das Geschehen genauso neugierig beobachtete.
Alpha Turkan entdeckte die beiden noch bevor er eine Bewegung im Gebüsch auf der Welter-Seite bemerkte und Hendrik und Anton nebeneinander langsam auf die Grenze zukommen sah. Turkan grunzte. Dieser grauschwarze Wolf war Alpha Ortwin vom Ostram-Rudel und vor diesem kampferprobten starken Wolf hatte er einen riesen Respekt. Er wusste aber auch, dass Ortwin sich nicht einmischen würde, solange sie die Grenze zu seinem Revier achteten. Trotzdem hasste er es, einen solchen mächtigen Alpha als Zeugen zu haben.
„Wo sind die Wölfinnen?", fragte er tückisch zu Hendrik gewandt.
„Immer noch im Forster-Rudel", grinste Hendrik scheinbar entspannt. „Ich kann leider nicht hexen, sonst hätte ich sie bereits bei mir. Aber, dann hättest du auch nicht die Chance, dir die Wölfinnen selbst auszusuchen."
„Glaubst du wirklich, ich würde mich auf euer Revier begeben und mir dort die Wölfinnen selbst aussuchen?", fragte Alpha Turkan wütend knurrend. „Ich trau dir nicht, Hendrik Kaaden. Und ich traue noch weniger deinem Vater. Wenn du deine Mate wieder haben willst, solltest du dich auf den Weg machen und mit dem geforderten Preis zurückkehren. So lange wird deine Mate meine Gefangene sein. Du solltest dich also beeilen."
„Ich traue dir genauso wenig, Alpha Turkan", antwortete Hendrik sarkastisch. „Wer garantiert mir, dass du meine Mate in der Zwischenzeit gut behandelst? Und wer garantiert mir, dass du sie bis jetzt gut behandelt hast?"
Alpha Turkan gab seinen Männern ein Zeichen, mit Tonya näher zu treten. Doch immer noch in angemessenem Abstand zur Grenze ließ er sie anhalten.
„Schau sie dir an, Alpha Hendrik", forderte Turkan seinen Gegenüber auf. „Ich habe ihr kein Haar gekrümmt. Noch nicht. Du solltest meine Geduld aber nicht strapazieren."
Hendrik beobachtete Tonya.
„Geht es dir gut, Tonya?", rief Hendrik ihr fragend zu.
Ganz leicht nur hob sie ihren Kopf und nickte fast unmerklich.
„Hat er dich angefasst?", verlangte Hendrik zu wissen.
Ohne ihren Blick zu heben, schüttelte sie ebenfalls fast unmerklich ihren Kopf.
„Bist du gut untergebracht?"
Und wieder nickte Tonya nur ganz leicht. Sie wirkte wie ein kleines braves Mädchen. Innerlich grinste er. Hendrik kannte diese Haltung von ihr. Aber dieser Alpha Turkan kannte Tonya nicht und ihre mentale Stärke. Ob Turkan wusste, welcher Vulkan in ihr brodelte?

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Suche, Tonya!
WerewolfWas war bei ihrer Geburt wirklich geschehen? Warum hatte ausgerechnet sie diesen Talisman erhalten? Warum hatte sie das Gefühl, dieser Mondstein bedeutete etwas? So viele Fragen und keine Antwort darauf. Tonya wollte sich nicht einfach so unterordne...