Tonya hatte sich entschieden, in ihrer menschlichen Gestalt das Territorium des Minster-Rudels zu betreten. Aaron, ganz Gentleman, hatte ihr Bündel bis kurz vor die Grenze getragen. Bis dahin waren sie als Wölfe gelaufen, da sie so deutlich schneller dort ankamen. Dann hatte Aaron sich verwandelt, seinen Umhang übergeworfen und anschließend die Umgebung beobachtet, bis sich Tonya ebenfalls verwandelt und das Kleid, das Luna Melissa ihr mitgab, angezogen hatte.
Aaron zeigte auf eine Baumgruppe inmitten einer weiten Grasebene.
„Hinter dieser Baumgruppe hatte damals der Kampf stattgefunden", erklärte er ihr leise. „Diese ganze Grasebene gehörte ursprünglich dem Silver-Rudel, bevor Alpha Livian diese Ebene dem Sander-Rudel abrang."
„Und wie komme ich am schnellsten zum Hauptquartier des Minster-Rudels?", wollte Tonya wissen.
„Halte dich nordöstlich", Aaron zeigte dabei in die entsprechende Richtung. „Wenn du zügig gehst, müsstest du gegen Abend die Stadt erreichen." Er reichte ihr noch den Beutel mit Proviant. „Pass auf dich auf, Tonya Burmann."
Tonya lächelte ihn an und hängte den Beutel über ihre Schulter.
„Keine Sorge", bekräftigte sie. „Ich passe auf mich auf. Und danke."
Aaron blickte ihr nach, wie sie zügig in Richtung der Baumgruppe ging. Er seufzte. Irgendwie hatte er es geahnt, dass sie zuerst zu dem damaligen Kampfplatz gehen würde. Er spürte eine Unruhe in sich und ertappte sich bei dem Gedanken, ihr einfach zu folgen. Aber er hatte seine Befehle. Bringe unseren Gast sicher bis zur Grenze und dann komme zurück. Ergeben schnaubte er.
‚Sie ist jetzt unterwegs, Alpha', berichtete er.
‚Alles gut gegangen?', kam prompt die Frage zurück.
‚Ja', bestätigte Aaron. ‚Keine Anzeichen von Wölfen in der Nähe. Tonya ist vollkommen allein unterwegs.'
‚Wohin?'
‚Zum Kampfplatz.' Alpha Antons Knurren dröhnte in Aarons Kopf. ‚War nicht meine Idee', verteidigte er sich mürrisch.
‚Ich weiß', entschuldigte sich Alpha Anton. ‚Komm zurück.'
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Nach etwas mehr als einer Stunde Fußmarsch hatte Tonya die andere Seite der Baumgruppe erreicht. Bevor sie hinaustrat auf diese Grasebene, hatte sie zunächst aufmerksam ihre Umgebung beobachtet.
Was für ein eigenartiges Gefühl? Sie stand auf der Grasebene, auf der vor achtzehn Jahren ihr leiblicher Vater den Tod gefunden hatte. Ruhelos und ziellos ging sie auf diesem Platz hin und her. Irgendwo hier hatte er gelegen und sein Leben ausgehaucht. Was wusste er? Wusste er, dass hier der Tod auf ihn wartete? Hatte er deswegen seine Luna und seine Kinder in Sicherheit bringen lassen?
Was hatte sie bisher erfahren?
Ihr Vater hatte ihre schwangere Mutter zusammen mit einer Dienerin zum Minster-Rudel geschickt. Sollten sie sich dort verstecken, oder sollten sie dort wirklich um Unterstützung anfragen? Sienna musste es doch wissen. Falls sie das nicht durch Zufall selbst herausfand, würde sie Sienna fragen, sollte sie ihr nochmals begegnen.
Was aber, wenn das stimmte, was Tillmann erzählte? Dann könnte es doch durchaus sein, dass ihr Vater ihrer Mutter und Sienna ein ganz anderes Ziel befohlen hatte. Hatte Sienna die Männer in ihrer Begleitung schlafen geschickt, um unbemerkt mit Luna Lisandra fliehen zu können? Machte Sinn, wenn der damalige Beta von Alpha Tillmann die beiden Frauen wirklich von Ost nach West durch das Welter-Territorium geführt hatte.
Fakt war, dass die beiden Frauen tatsächlich weit im Westen gelandet waren und sie, Tonya, in der Nähe des Krankenhauses in der Unterstadt beim Forster-Rudel auf die Welt gekommen war. Das wiederum machte Alpha Tillmanns Aussage glaubhaft. Das aber würde ebenfalls bedeuten, dass Elian dem Alpha Livian vom Minster-Rudel nicht wirklich getraut hatte. Aber wieviel wusste dessen Sohn Orson? Wenn er kurz davor war, sein Rudel seinem Sohn Leano zu übergeben, musste er damals selbst kurz vor der Übernahme des Minster-Rudels gestanden haben. Orson muss die Kämpfe mitbekommen haben, vielleicht auch den Kampf, der für Elian Silvan tödlich endete. Er hatte sicher auch die Kämpfe mitbekommen, die letztendlich das Revier des Minster-Rudels vergrößerten. Aber von den internen Vorgänge im Silver-Rudel konnte er nichts wissen. Es machte also nicht wirklich Sinn, den Weg zum Minster-Rudel zu suchen.
Alpha Tillmann erzählte, dass Elian bei dieser Hexe in den Bergen gewesen sei und anschließend sowohl seinen Sohn als auch seine schwangere Luna fortgeschickt habe. Also musste er von der Hexe etwas erfahren haben, was ihn zu diesem Schritt veranlasste. Hatte ihm die Hexe erzählt, wer tatsächlich sein Feind war? Warum aber schickte er dann seinen Sohn Elric zusammen mit dieser Agnis und ihrem Mate Ingmar zum Sander-Rudel? Ausgerechnet dorthin?
Doch sie kamen nie dort an. Waren Agnis und Ingmar ebenfalls Verräter? Und wenn ja, hatten sie ihren Bruder Elric trotzdem zum Sander-Rudel gebracht, heimlich. Und lebte Elric dann noch? Es war nie etwas bekannt geworden in dieser Richtung. Also musste Elian Agnis und Ingmar ein anderes Ziel genannt haben. Aber welches? Waren sie in die Berge gegangen? Hatten sie vielleicht sogar versucht, irgendwie über die Berge in das Land dahinter zu gelangen? Oder waren sie, anstatt nach Osten zum Sander-Rudel nach Westen zum Ostram-Rudel gezogen? Das würde mehr Sinn machen.
Tonyas Gedanken schwirrten. Sie versuchte sich an alles zu erinnern, was der alte Alpha Tillmann erzählt hatte. Und währenddessen ging sie immer noch ziellos und planlos auf der Grasebene hin und her. Mit ihren Händen streifte sie dabei gedankenverloren über die Köpfe einiger hoher Grasbüschel.
Plötzlich stutzte sie. Sie hatte ein Blinken gesehen. Nur ganz kurz und aus dem Augenwinkel. Aufmerksam blickte sie sich um. Sie konnte niemand entdecken. Sie konnte nichts Verdächtiges riechen und sie konnte auch nichts hören, was sie in irgendeiner Art und Weise beunruhigen könnte. Woher also kam das Blinken? Sie ging nochmals einige Schritte in die Richtung, aus der sie gekommen war, drehte sich um und ging denselben Weg nochmals. Langsam und äußerst aufmerksam. Nichts.
Also ging sie nochmals zurück. Was hatte sie vorhin gemacht? Sie hatte über die Köpfe der Halme des großen Grasbüschels, der dastand, gestrichen. Und da war es wieder. Irgendetwas lag ganz weit unten zwischen den Grashalmen und blinkte in der Sonne. Sonne? Den ganzen Tag über war es bewölkt gewesen, und ausgerechnet jetzt, genau in diesem Augenblick als sie an diesem Grasbusch vorbei ging, riss die Wolkendecke auf und gestattete der Sonne durch diesen kleinen Riss, ihre Strahlen zur Erde zu schicken. Zufall? Vorsehung? Hexenwerk? Magie?
Tonya bückte sich und hob einen Erdklumpen auf, aus dem der Rand einer Münze herausragte. Ja, es war eine Münze. Tonya säuberte sie und traute dann ihren Augen nicht. Sie sah genauso aus, wie ihr Talisman, nur war diese Münze noch vollständig. In der Mitte befand sich ein Zeichen, das aussah, als würde der Mond vor der Sonne liegen. Im Zentrum des Mondes befand sich ein kleiner Ring mit einem kleinen Loch in der Mitte. Der Ring sah aus, als handle es sich um die Iris eines Auges. Während die Münze selbst aus Kupfer zu bestehen schien, auf dem die Symbole eingeprägt wurden, musste dieser Ring aus einem anderen Metall bestehen, einem Metall, das sich grünlich gefärbt hatte. Das also war das Zeichen des Silver-Rudels. Und wieder taten sich neue Fragen auf. Warum war der Ring in der Mitte aus einem anderen Metall, so dass es aussah, als wäre das Zentrum der Münze ein Auge? Und was bedeutete das Auge in der Mitte?
Die Münze fest in einer Hand umklammert, blickte sich Tonya um. Sie sah die Umgebung, sah das noch kurze Gras, welches bereits das neue Grün des Frühlings zeigte. Manche Pflanzen dazwischen zeigte auch schon die ersten Blütenstände. Dazwischen wuchsen Sträucher und Gräser, die fast genauso groß waren. Nur vereinzelt standen ein paar Bäume. Schwer vorstellbar, dass sich genau hier vor etwa achtzehn Jahren Wölfe Kämpfe auf Leben und Tod geliefert hatten.
Und noch schwerer vorstellbar, dass auch sie selbst hätte sterben sollen, damals. Sie war nur deshalb noch am Leben, weil sie in einem anderen Rudel unter einem anderen Namen als Tochter einer fremden Familie aufgewachsen war.
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Suche, Tonya!
Hombres LoboWas war bei ihrer Geburt wirklich geschehen? Warum hatte ausgerechnet sie diesen Talisman erhalten? Warum hatte sie das Gefühl, dieser Mondstein bedeutete etwas? So viele Fragen und keine Antwort darauf. Tonya wollte sich nicht einfach so unterordne...