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Schon lange hatte sie nicht mehr so gut geschlafen. Es hatte ihr gutgetan, von Vicki zu erfahren, dass es allen gut ging. Niemand hatte unter ihrem Verhalten wirklich leiden müssen und darüber hatte sie sich am meisten gefreut. Diese Unruhe in ihr war verschwunden.

Was hatte Vicki gesagt? „Wir wussten alle, wie du dich entscheiden würdest." Es hatte Tonyas Gewissen durchaus beruhigt zu wissen, dass ihre Familie nicht von ihrer Entscheidung geschockt war, allenfalls von ihrem Abgang.

Was für eine verrückte Idee, sich vor allen splitternackt auszuziehen, sich zu verwandeln und dann in den Wald zu laufen. Diese Idee hatte sie genau in dem Moment, als Alpha Norman verlangte, dass Hendrik sie ablehnen sollte. Sie hatte in diesem Moment so viel Wut in sich gespürt. Wut ihrem Alpha gegenüber, der ihr mit seinem Verhalten alles kaputt gemacht hatte und noch mehr kaputt machen wollte. Sie wollte ihn schocken, ihm die Stirn bieten, sich ihm vor allen widersetzen und gleichzeitig verhindern, dass er seinen Willen durchsetzen konnte. Genau das hatte sie mit ihrem schockierenden Verhalten auch geschafft.

Tonya gähnte und streckte sich. In ihrer Menschengestalt würde sie frieren, hätte sie nicht eine warme Decke um, denn es war jetzt schon ziemlich kalt, obwohl noch kein Schnee gefallen war. Vielleicht würde auch diesen Winter kein oder kaum Schnee fallen, so wie im letzten Jahr auch. Vorsorglich hatte sie bereits damit angefangen, hier Vorräte anzulegen und dafür zu sorgen, dass sie hier problemlos überwintern konnte.

In einer Ecke hatte sie bereits Stroh aufgehäuft. Zusammen mit den Decken, die sie sich in einem weiter entfernten Menschendorf „besorgt" hatte, bot ihr das Strohlager ein warmes Bett. Mit dem Essen wurde es etwas schwieriger. Im Winter würde auch Vicki nicht so häufig kommen können. Vielleicht machte es daher mehr Sinn, Anschluss zu suchen. Irgendwo.

Sie war in den letzten Wochen viel unterwegs gewesen. Sie wusste, wo das Wölfinnenrudel sich niedergelassen hatte und sie kannte auch die meisten Verstecke der Rudellosen, die in kleinen Gruppen von vier maximal fünf Wölfen im Niemandsland unterwegs waren. Warum hatten sie sich nicht so wie die Wölfinnen zu einem neuen Rudel zusammengeschlossen? Wahrscheinlich, weil in einem Männerrudel zu viel Testosteron aufeinander knallte, beantwortete sich Tonya diese Frage selbst und verzog ironisch ihr Gesicht.

Egal. Bisher jedenfalls war es ihr problemlos gelungen, diesen Streunern aus dem Weg zu gehen. Genau das hatte sie auch in Zukunft vor, aber vielleicht konnte sie die kalte Zeit bei den Wölfinnen verbringen. Einen Versuch war es jedenfalls wert.

Sie aß das restliche Obst zum Frühstück, die Wurst und der Käse würden bei den Temperaturen einige Tage halten. Sie verstaute alles in einer Dose und schob diese in eine kleine Nische. Dann nahm sie den Mondstein und steckte ihn in ein kleines Ledersäckchen. Bedächtig nahm sie das Lederband um ihren Hals ab. Liebevoll strich sie mit dem Finger über die Münze, die daran befestigt war. Sie hatte diese Münze an ihrem achtzehnten Geburtstag von ihren Eltern geschenkt bekommen.

Es sei eine magische Münze, hatte ihre Mutter gesagt. Und diese Münze würde sie auf ihrem Weg begleiten und beschützen. Ob das stimmte? Tonya seufzte. Schnell befestigte sie das Säckchen mit dem Mondstein ebenfalls an diesem Lederband und legte dieses wieder um ihren Hals. Dann legte sie die Decken ordentlich auf das Stroh, verwandelte sich und verließ die Höhle.

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Tonya wandte sich nach Norden, glücklich darüber, dass der Wind aus dieser Richtung kam. So konnte sie rudellose Wölfe deutlich schneller riechen und ihnen aus dem Weg gehen. Sie selbst hatte sich im Wald auf dem Boden gewälzt. Nicht nur, um ihren Geruch, sondern auch um die Farbe ihres Felles zu überdecken. Ihr glänzendes rötliches Fell würde deutlich schneller gesehen, wie ihr nun dreckiges bräunliches Fell.

Plötzlich stutzte sie. Sie vernahm in der Ferne das Knurren mehrerer Wölfe. Vorsichtig schlich sie sich näher. Würde sich herausstellen, dass sich Rudellose gegenseitig an die Kehle gingen, würde sie sich sehr schnell zurückziehen. Dann aber witterte sie einen Duft, der nicht rudellos dreckig war, sondern nach Waldblumen roch. Das konnte kein Rudelloser sein.

Vorsichtig näherte sie sich und entdeckte eine kleine Wölfin, die von drei Rudellosen mit lüstern sabbernden Lefzen umringt wurde. Die Kleine hatte keine Chance, denn die Wölfe kamen ihr, stetig um sie kreisend, immer näher. Tonya blickte sich um und sicherte erneut sorgfältig.

     Wenn ein Kampf unausweichlich ist, nutze jeden Vorteil, den du bekommen kannst.

     Wenn du die Zeit hast, eine Situation zunächst noch zu analysieren, dann tu es.

     Unterschätze nicht den Vorteil eines Überraschungsmoments.

     Wenn du kämpfen musst, handle. Wenn du zögerst hast du verloren.

     Wenn du die Möglichkeit hast, wähle immer zuerst den stärksten Gegner.

Wie oft hatte sie diese Ratschläge von ihrem Bruder Max gehört? Fast vor jeder Trainingsstunde hatte er sie damit genervt. Jetzt war sie froh darüber, denn das half ihr dabei, die Nerven zu behalten. Es fühlte sich fast so an, als würde Max hinter ihr stehen und ihr sagen, was sie tun musste.

Außer den Rudellosen und der kleinen Wölfin war niemand in der Nähe. Aber von der kleinen Wölfin würde sie kaum Unterstützung bekommen können, dazu war sie viel zu ängstlich. Also war sie auf sich allein gestellt gegen drei Rudellose, wollte sie der kleinen Wölfin helfen. Und sie wollte.

Langsam, vorsichtig und geduckt schlich sie einen Baumstamm hinauf und blickte nun von ihrem erhöhten Platz auf die Wölfe vor ihr. ‚Was für schwanzgesteuerte Schnarchnasen', dachte Tonya verächtlich und beobachtete die Rudellosen, die sie immer noch nicht bemerkt hatten, sondern nach wie vor vollkommen auf die kleine Wölfin konzentriert waren, die sich mal winselnd, mal knurrend ängstlich um die eigene Achse drehte.

Tonya wartete und beobachtete. Reglos und lautlos. Sie wartete auf den richtigen Zeitpunkt, nämlich auf den Moment, an dem der stärkste der drei Wölfe direkt unter ihr vorbeiging. Ohne Vorwarnung sprang sie. Ihre Zähne gruben sich tief in den Nacken des Wolfes. Mit Schwung rollte sie sich ab und zog dabei seinen schweren Körper über sich. Ehe der Wolf wusste, was geschah, knackte es verdächtig und er blieb mit gebrochenem Genick leblos liegen.

Die beiden anderen Wölfe waren so überrascht, dass sie nicht sofort reagierten. Ohne nachzudenken nutzte Tonya auch diesen Vorteil und griff den nächsten Wolf an. Gerade noch rechtzeitig konnte er zur Seite springen, doch Tonya erwischte ihn trotzdem noch an der Forderpfote. Unbarmherzig biss sie zu und brach ihm dabei die Knochen. Vor Schmerz aufjaulend strauchelte der Wolf zurück.

Schon hatte sie sich dem dritten Wolf zugewandt. Knurrend standen sie sich gegenüber. Obwohl Tonya kleiner war, strahlte sie in diesem Moment so viel Kraft und Dominanz aus, dass der Rudellose schließlich winselnd den Schwanz einzog und schnell das Weite suchte.

Die kleine Wölfin stand wie angewurzelt da und starrte Tonya an, die sich erneut dem verletzten Wolf zugewandt hatte und beobachtete, wie dieser sich auf drei Pfoten humpelnd so schnell er konnte entfernte. Er würde nicht weit kommen, das war Tonya klar, aber es kümmerte sie nicht. Er war selbst schuld. Drei große Wölfe gegen eine kleine Wölfin – wie feige war das denn?

Tonya ging langsam auf die Wölfin zu, stupste sie an und forderte sie auf, ihr zu folgen. Sie konnte sich denken, wohin die Wölfin wollte, und Tonya kannte den Weg dorthin.

Suche, Tonya!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt