„Ihr lebt!?"
Ein Aufschrei hallte durch das Rudelhaus, als Hendrik gefolgt von Florian und Max den großen Aufenthaltsraum betraten. Es war ein trauriges Bild, was sie dort erwartete.
Obwohl sich sehr viele Rudelmitglieder darin aufhielten, war es gespenstisch still in dem Raum, so dass die Männer eigentlich einen leeren Aufenthaltsraum erwartet hatten und deswegen erstaunt an der Tür stehen geblieben waren.
„Hendrik? Bist du das wirklich?", durchdrang Luna Adelins zittrige Stimme die Stille.
Sie hatte sich um eine der Frauen gekümmert, die still vor sich hinweinend auf einem der Sofas saß und mit dem Oberkörper immer vor und zurück wankte. Ganz langsam, als könnte sie ihren Augen nicht trauen, ging sie mit ausgestreckten Händen auf ihren Sohn zu und tastete zunächst sein Gesicht ab, während ihre Augen ängstlich suchend seinen Körper nach möglichen Verletzungen absuchten.
„Es geht mir gut Mutter", flüsterte Hendrik und zog Luna Adelin in seine Arme.
Ganz fest hielt er die nun schluchzende Frau und streichelte ihr beruhigend über den Kopf und den Rücken. Aufmerksam strich sein Blick derweil über die Frauen und Männer, die die drei Männer anstarrten, als wären sie Gespenster.
„Was ist hier eigentlich los?", fragte Hendrik leise, schob seine Mutter ein Stück von sich und blickte sie fragend an.
„Einige Frauen haben ihren Gefährten verloren", erzählte Luna Adelin leise. „Und einige haben Angst, ihren Gefährten zu verlieren, weil er gefangen genommen wurde. Sie alle sind hier. Wir trösten uns gegenseitig."
„Rudellose machen keine Gefangenen", erklärte Hendrik ruhig. „Es tut mir leid um jeden Kämpfer, der sein Leben verloren hat."
„Der Verlust bei den Rudellosen war mindestens doppelt so hoch", berichtete einer der wenigen Männer, die verletzt an einem der Tische saßen. „Aber wir wissen nicht, was mit den gefangenen Kämpfern geschehen ist. Vielleicht werden sie gefoltert, oder so."
„Mit uns", Hendrik zeigte auf Florian und Max, „wurden sieben weitere Kämpfer vom Rudel der Wölfinnen gefangen genommen. Wir drei haben unsere Freiheit Tonya zu verdanken."
„Tonya?", fragte einer der Männer erstaunt. „Tonya ist doch schon vor Wochen verschwunden. Sie ist fortgegangen und niemand wusste wohin."
„Nein. Tonya hatte sich nur unter einem anderen Namen im Rudel der Wölfinnen versteckt", erklärte Hendrik. „Wenn den anderen Gefangenen nichts Schlimmes passiert, dann haben wir das ihr zu verdanken. Wir dürfen hoffen, dass die Wölfinnen sie in den nächsten Tagen unversehrt freilassen werden. Bis auf deinen Gefährten, Dorina. Was mit deinem Gefährten geschieht, wird Iska entscheiden."
„Iska lebt?", heulte Dorina auf und presste ihre Faust auf ihren Mund. Sie hatte geglaubt, ihre Tochter wäre tot. Sie hatte geglaubt, dass ihr Gefährte seine eigene Tochter zu Tode geprügelt hatte, weil sie sich weigerte, sich mit seinem Freund zu paaren. „Sie lebt?", stammelte sie nochmals fassungslos.
„Ja, Dorina", nickte Hendrik. „Deine Tochter lebt und sie ist bei den Wölfinnen gut aufgehoben."
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen und zwei Frauen mit Tränen in den Augen blieben einen Augenblick in der Tür stehen, bis sich ihre Augen an das dunklere Licht im Rudelhaus gewöhnt hatten. Schnell hatten sie die drei Männer entdeckt und unter ihnen Max. Melli und Vicki stürmten auf ihn zu und hätten ihn fast umgerannt, wenn Florian, hinter ihm stehend, ihn nicht grinsend gestützt hätte.
„Max, mein Sohn", schluchzte Melli.
„Liebster", flüsterte Vicki.
„Kommt", sagte Max und hielt beide Frauen fest umarmt. „Wir gehen nach Hause. Dann erzähle ich euch alles."
„Max!", Hendrik blickte ihn warnend an.
„Ist schon klar", nickte Max ernst und schob die beiden Frauen zur Tür hinaus.
Kaum hatten sie den Aufenthaltsraum verlassen, wandte sich Hendrik wieder Dorina zu.
„Was heißt das für Taro?", fragte Dorina nun leise.
„Das heißt, dass ich nicht weiß, wie Iska sich entscheiden wird", erwiderte Hendrik. „Ich habe Iska gesehen. Es geht ihr gut, körperlich. Aber sie ist schüchtern, verschreckt, verängstigt. Und warum das so ist, das weißt du selbst. Die Alpha-Wölfin hat ihr die Aufgabe gegeben, über das Leben ihres eigenen Vaters zu entscheiden. Was glaubst du, wie lange es dauern wird, bis Iska in der Lage ist, tatsächlich eine Entscheidung zu treffen? Ich vermute, dass er mindestens so lange im Kerker wird schmoren müssen. Und dann kommt es darauf an, wie ihre Entscheidung ausfällt."
Und wieder wurde er unterbrochen. Diesmal allerdings mit einem lauten Knall, denn Alpha Norman hatte die Tür zum Rudelhaus so heftig aufgestoßen, dass sie durch den Aufprall fast an der Wand zersplittert wäre.
„Hast du endlich deine Fähigkeiten eingesetzt, um dich zu befreien?", fragte Alpha Norman streng.
„Wenn du annimmst, ich hätte gegen die Frauen gekämpft, muss ich dich enttäuschen, Vater", antwortete Hendrik mit einer deutlichen Spur Spott in der Stimme. „Wir haben es meiner Mate zu verdanken, dass wir frei sind."
„Deiner Mate?", fragte Alpha Norman überrascht. „Sie ist immer noch hier?"
„Jetzt nicht mehr", knurrte Hendrik. „Du brauchst also nicht nach ihr zu suchen."
„Dann hast du sie endlich abgelehnt?", vermutete Alpha Norman zufrieden.
„Nein", antwortete Hendrik entschieden. „Ich würde meine Mate niemals ablehnen."
„Dann hat sie sich dir unterworfen? Wo ist sie dann?"
„Tonya wird sich auch niemals unterwerfen", grinste Hendrik zufrieden.
„Was bist du nur für ein Schlappschwanz", brüllte Alpha Norman verächtlich. „Du willst ein Alpha sein und schaffst es nicht einmal, deine Mate zu disziplinieren?"
„Ich will sie nicht disziplinieren, Vater", antwortete Hendrik scharf. „Ich will eine starke Mate, eine Mate, die an meiner Seite steht und nicht hinter mir."
„Du hast es immer noch nicht begriffen, Sohn. Wenn du der Alpha bist, dann hast du das Sagen. Dein Wort gilt. Und jeder hat sich danach zu richten, sonst funktioniert das nicht. Und wieder hast du versagt, weil du dir von einer kleinen Wölfin auf der Nase herumtanzen läßt."
„Sie ist MEINE Mate, Vater. Es ist MEINE Entscheidung, wie ich mit ihr umgehe und was ich ihr zugestehe. Da hast du dich nicht einzumischen", donnerte Hendrik.
„Noch habe ich hier das Sagen", brüllte Alpha Norman voller Wut bevor er leiser, aber mit mühsam beherrschter Stimme fortfuhr. „Ich werde Wölfe losschicken, die sie suchen und zurückbringen. Dann wirst du sie offiziell ablehnen und anschließend Evelina als deine Luna wählen. Haben wir uns verstanden?"
Stolz baute sich Hendrik direkt vor seinem Vater auf.
„Du hast verloren, Vater", erwiderte Hendrik leise und mit vor kälte klirrender Stimme. „Ich werde niemals Evelina als meine Luna wählen, denn sie wäre keine gute Luna. Ich habe eine wunderbare starke Mate. Tonya ist die Einzige, die ich als Luna an meiner Seite dulden werde. Du hast alles zerstört. Deinetwegen ist meine Kleine gegangen. Deinetwegen hat dieser unsinnige Kampf stattgefunden. Und du bist auch der Grund, weshalb auch ich gehe, weil ich dich als meinen Alpha nicht mehr akzeptieren kann."
Luna Adelin heulte auf. Alpha Norman starrte seinen Sohn schockiert an und die Rudelmitglieder hielten entsetzt die Luft an.
„Das wagst du nicht", keuchte Alpha Norman.
„Oh doch."
„Ich verbiete dir zu gehen", donnerte Alpha Norman mit seiner Alpha-Stimme.
Alle Anwesenden duckten sich instinktiv. Nur Hendrik blieb stehen und blickte seinen Vater spöttisch lächelnd an.
„Ich habe Alpha-Blut in mir, Vater", grinste er spöttisch. „Deine Alpha-Stimme wirkt bei mir nicht."
Hendrik wandte sich an seine Mutter und umarmte sie. „Es tut mir leid", flüsterte er ihr ins Ohr. Dann klopfte er seinem Freund Florian wortlos auf die Schulter und verließ das Rudelhaus.
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Suche, Tonya!
WerewolfWas war bei ihrer Geburt wirklich geschehen? Warum hatte ausgerechnet sie diesen Talisman erhalten? Warum hatte sie das Gefühl, dieser Mondstein bedeutete etwas? So viele Fragen und keine Antwort darauf. Tonya wollte sich nicht einfach so unterordne...