Es war ein eigenartiger Tag. Alles war so still, so unnatürlich still. Fast hatte es den Anschein, als ob auch die Tiere spürten, dass dieser Tag irgendwie – eigenartig war.
Es wollte nicht so wirklich Tag werden. Dichte, tiefhängende Wolken verhinderten, dass die Sonne den Nebel aus den Wäldern und Auen vertrieb. Die kalte Feuchtigkeit, die in der Luft hing, war spürbar und hatte ihre Spuren in der taugetränkten Natur hinterlassen. Es war nicht mehr so kalt, als dass das Wasser zu Reif gefror, aber diese kalte Feuchtigkeit fühlte sich weitaus ungemütlicher an als die eisige Kälte, die die Feuchtigkeit erstarren ließ und die Luft dadurch trocknete.
Eingewickelt in einer dicken und warmen Decke saß Sunja auf der Aussichtsplattform in der Felswand und starrte gedankenverloren vor sich hin. Sie spürte nicht den ungemütlich kalten Wind, der sie dort umwehte und sie spürte auch nicht diese kalte Feuchtigkeit, die trotz Decke langsam an ihr hoch kroch.
Sie starrte in das Dorf der Wölfinnen, in dem es sehr still war, gespenstisch still. Sehr viel stiller als an normalen Tagen. Doch eigentlich war es kein normaler Tag. Eigentlich müsste das Dorf vor Freude über den Sieg am Tag zuvor voll Leben sein. Tatsächlich aber hatten Tonyas Worte und die Tatsache, dass sie noch in der Nacht das Dorf verlassen hatte, die ausgelassene Stimmung fast komplett zum Erliegen gebracht.
Jede der Frauen im Dorf hatte einen Grund mindestens einen Menschen zu hassen. Auch wenn die Geschichten unterschiedlich waren, so waren sie doch in einem gleich. Sie bedeuteten für jede der Frauen ein Leben mit Gewalt, ein Leben mit Schlägen und Demütigungen. Jede der Frauen hatte das Recht, ihren Peiniger zu hassen und ihm die Pest an den Hals zu wünschen. Bei jeder der Frauen wäre der Wunsch nach Rache durchaus verständlich.
Nur Tonya hatte nie wirkliche Gewalt erfahren. Sie wurde aus ihrem Rudel verstoßen, weil sie sich nicht fügen wollte. Sunja hatte in den Gesichtern der Frauen zunächst viel Wut und viel Unverständnis für Tonya und ihre Worte und ihr Verhalten gesehen. Doch schnell gab es immer mehr nachdenkliche Gesichter darunter. Trotzdem konnten die Frauen zunächst nicht verstehen, warum sie sich für diese Männer einsetzte.
Über Sunjas Gesicht liefen Tränen. Die Frauen hier wussten nur, dass sie von ihrem Onkel geschlagen wurde. Ihre Eltern waren früh gestorben. Niemand hatte ihr gesagt woran. Man hatte sie einfach zu ihrem Onkel gebracht und glaubte sie und ihre jüngere Schwester dort in guten Händen. Niemand hätte ihr geglaubt, dass ihr Onkel sie beide schlecht behandelte. Schließlich war er hoch angesehen im Rudel. Doch ihr Onkel war ein Monster gewesen.
Nur mit Mühe konnte Sunja das Zittern ihrer Hände unterdrücken. Sie zitterten, weil sie ihre Hände zu Fäusten geballt und so verkrampft hatte, dass sie nur unter höchster Anstrengung ihre Fäuste wieder lösen konnte. Diese Hände hatten ihren Onkel umgebracht, diese Hände hatten sich gerächt für das, was er getan hatte. Er hatte ihre Schwester vor ihren Augen bestraft, manchmal durch Schläge, manchmal hatte er sie vergewaltigt. Und das immer dann, wenn sie, Sunja, in seinen Augen etwas falsch gemacht hatte. Hatte ihre Schwester etwas falsch gemacht, wurde sie selbst bestraft.
Bis zu dem Tag, als sich ihre Schwester selbst ein Messer in den Bauch rammte, weil sie es nicht mehr ertragen konnte, wie sie, Sunja, ihretwegen verprügelt wurde. Einen Moment nur war ihr Onkel dadurch unaufmerksam gewesen. Sunja hatte in diesem Moment vor lauter Schmerzen, Wut und Hass und Trauer um ihre Schwester nicht mehr klar denken können, sie hatte das Messer genommen und damit auf ihren Onkel wie im Rausch eingestochen. Dann war sie dagestanden, reglos und hatte auf das schreckliche Bild vor ihr gestarrt und auf das Blut.
Es hatte lange gedauert, bis ihr Gehirn wieder angefangen hatte zu arbeiten. Da erst hatte sie sich umgedreht und war geflohen.
Sunja bereute nicht, ihren Onkel getötet zu haben. Aber niemals würde sie auf den Gedanken kommen, jemand dafür zu bestrafen, was ein anderer gemacht hatte. Ja, Tonya hatte Recht. Jede von ihnen hätte das Recht, ihren Peiniger zu bestrafen, aber keiner von ihnen hatte das Recht, einen Unschuldigen für die Taten ihrer Peiniger bezahlen zu lassen. Würden sie es trotzdem tun, wären sie genauso Monster wie ihre Peiniger es waren. Tonya war gerade noch zur rechten Zeit gekommen.
Sunja seufzte. Sie hatte in den letzten Wochen zu dieser jungen Wölfin großes Vertrauen und Hochachtung entwickelt und obwohl sie Amira mochte und ihr treu ergeben war, war sie sich auch sicher, dass Tonya, obwohl noch so jung, eine sehr gute Alpha-Wölfin für ihr Rudel gewesen wäre. Aber sie respektierte ihre Entscheidung. Ob sie sie jemals wiedersehen würde?
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Wer immer es sich leisten konnte, ging Alpha Norman aus dem Weg.
Alpha Norman hatte verloren. Er hatte sehr viel verloren. Er hatte nicht nur diesen Kampf verloren, er hatte auch seinen Sohn verloren und noch viel schlimmer auch sein Gesicht. Und, er war auch noch selbst in einem unaufmerksamen Moment von einem der Rudellosen verletzt worden. Der Rudellose hatte diese Frechheit zwar nicht überlebt, aber er hatte es geschafft, ihn, Alpha Norman vom Forster-Rudel, so stark zu verletzen, dass er mehrere Tage brauchen würde, um die Wunde ausheilen zu lassen.
Luna Adelin hatte sich in ihrem Handarbeitszimmer eingeschlossen. Zum ersten Mal, seit er sie damals als seine Mate erkannte und sofort mitnahm, hatte sie die Nacht nicht an seiner Seite verbracht, sondern sich sofort, als sie erfuhr, dass ihr Sohn gefangen genommen wurde, in dieses Zimmer zurückgezogen und sich darin eingesperrt. Sie hatte zum ersten Mal nicht ihre Pflicht erfüllt und sich um ihn gekümmert.
Sein Sohn hatte sich gefangennehmen lassen, von einer Wölfin. Welch eine Schande. Aber da es sich um eine ausgestoßene Wölfin handelte, hielt er es durchaus für möglich, dass sie soweit gegangen wäre, seinem Sohn die Kehle durchzubeißen. Auch wenn er sich für ihn schämte, Hendrik war sein einziger Sohn und er brauchte ihn zurück, um sein Versprechen gegenüber seinem Freund einlösen zu können.
Zum ersten Mal spürte Alpha Norman aber auch von Seiten seines Rates Gegenwind. Sie gaben ihm die Schuld an dieser misslichen Lage. Er hatte seinen Sohn nicht im Griff. Er hätte schon deutlich früher dafür sorgen müssen, dass sein Sohn Evelina als Gefährtin auserwählte und als seine Luna anerkannte. Stattdessen hatte er gewartet, bis sein Sohn Hendrik seine Mate gefunden hatte. Jetzt konnte er Evelina erst dann auswählen, wenn er zuvor seine Mate offiziell ablehnte.
Alpha Norman hatte derzeit extrem schlechte Karten. Er stand mit dem Rücken an der Wand und schlug und stach nach allem, was ihm zu nahe kam in der Annahme, alles würde ihn bedrohen.
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Sie hatten sich wieder in Wölfe verwandelt. Eingekuschelt zwischen Hendrik, dem großen dunkelgrauen Wolf, und Max, dem etwas kleineren braunen Wolf, lag Tonya, die kleine rötliche Wölfin und schlief tief und fest. Florian hatte sich zu Füßen der Gruppe hingelegt. Sie waren erschöpft gewesen.
Die Anspannung vor dem Kampf, der Kampf selbst, das Wirrwarr an Gefühlen und Gedanken nach dem Kampf, der lange Marsch vom Dorf der Wölfinnen bis zu dieser Insel mitten im Moor – all das hatte Kraft gekostet, nicht nur körperlich, sondern auch mental.
Der erste, der am späten Vormittag erwachte, war Florian. Nachdenklich betrachtete er seinen Alpha und seine Luna. Auch wenn Hendrik und Tonya ihre Bindung noch nicht besiegelt hatten, so hatte er dennoch mitbekommen und spürte es auch, dass die Bindung zwischen den beiden bereits sehr stark war. Sie lag ganz dicht an ihn gekuschelt und er hatte sogar noch beschützend eine Pfote über sie gelegt. Was für ein starkes Paar.
Sein Blick fiel auf Max. Auch er lag nahe an Tonya, berührte sie sogar mit einer Pfote, als würde er bekräftigen wollen, dass sie für ihn immer noch seine kleine Schwester war. Hendrik schien es geahnt zu haben. Er erinnerte sich daran, dass Hendrik ihm etwas anvertrauen wollte, als er ihm mitteilte, Alpha Norman würde planen, Tonya vor dem ganzen Rudel zu zwingen, sich seinem Willen zu unterwerfen. Sollte sie das nicht tun, würde er von seinem Sohn erwarten, dass er sie als Gefährtin ablehnte. Hendrik hatte nur gelacht.
Wusste er da schon, dass er sie nicht ablehnen konnte, weil er ihren Geburtsnamen nicht wusste? Was wusste Hendrik noch? Er hatte in den Tagen vor Tonyas Verbannung häufiger die Oberstadt verlassen, allein. Wo war er hingegangen? Mit wem hatte er Kontakt aufgenommen? Jedenfalls hatte es nicht so ausgesehen, als wäre er über Tonyas Verhalten sehr erstaunt gewesen. Er hatte leicht gelächelt als sie seinem Vater vor allen Augen die Stirn bot. Und gestern hatte er sich ihr kampflos ergeben. Jeden anderen Gegner hätte er problemlos in der Luft zerrissen, aber vor dieser kleinen roten Wölfin hatte er sich auf den Rücken gelegt und ihr seine Kehle angeboten.
Schnaubend schüttelte Florian seinen Kopf. Längst schon hatte er für sich eine Entscheidung getroffen. Hendrik war nicht nur sein Alpha, er war auch sein bester Freund. Und vor dieser kleinen Wölfin hatte er mittlerweile großen Respekt. Wohin auch immer Hendriks und Tonyas Weg führte, er würde stets an ihrer Seite sein.
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Suche, Tonya!
WerewolfWas war bei ihrer Geburt wirklich geschehen? Warum hatte ausgerechnet sie diesen Talisman erhalten? Warum hatte sie das Gefühl, dieser Mondstein bedeutete etwas? So viele Fragen und keine Antwort darauf. Tonya wollte sich nicht einfach so unterordne...