„Tonya?"
Die unbekannte weibliche Stimme drang nur langsam in Tonyas Bewusstsein.
„Tonya, wach auf", forderte sie diese Stimme erneut auf.
Mühsam öffnete sie ihre Augen und blickte die Frau verwirrt an.
„Ich bin Alma", lächelte die Frau. „Yara hat mich beauftragt, dich zu wecken und dir zu helfen. Luna Melissa hat dir Kleidung zurechtlegen lassen. Wenn du fertig bist, begleite ich dich ins Alphahaus. Du wirst dort zum Abendessen erwartet."
Gerade mal dreißig Minuten später folgte Tonya der jungen Frau die Treppe hinunter und aus dem Rudelhaus hinaus. Die Straße war eine Sackgasse, an dessen Ende sich das Rudelhaus befand. Sie wandten sich nach links und betraten dort den großen Vorgarten, auf dem ein breiter Fußweg zwischen Bäumen und Sträuchern hindurch zur Eingangstür des Alphahauses führte. Kaum näherten sie sich der Tür, wurde diese bereits geöffnet und eine ältere Frau in einem schwarzen Kleid nahm sie in Empfang.
„Herzlich Willkommen", sagte sie lächelnd. „Mein Name ist Rosalie. Ich bin die Haushälterin von Alpha Anton und Luna Melissa. Bitte folge mir."
Tonya folgte der Haushälterin in ein großes Wohnzimmer. Erstaunt blickte sie sich um. Die ganze gegenüberliegende Wand war aus Glas und gestattete einen Blick auf eine große, von Bäumen und Sträucher umrandete Rasenfläche. Auf der einen Wandseite befand sich ein Bücherregal, das über die ganze Wandbreite ging und bis zur Decke reichte, und auf der Seite gegenüber befand sich ein offenes Kamin und darüber eine große Leinwand.
In der Mitte des Raumes stand eine U-förmige Wohnlandschaft zum Kamin hin offen und darauf saß Luna Melissa gegenüber einem älteren Paar. Alpha Anton stand vor der Glaswand dem Garten zugewandt und drehte sich um, als Tonya in den Raum geführt wurde.
„Tonya Burmann", sagte Alpha Anton mit einem leisen Schmunzeln in der Stimme. „Meine Frau kennst du ja schon. Und das hier sind meine Eltern Tillmann und Hedwiga. Ist das Essen fertig, Rosalie?"
Die Haushälterin nickte und Alpha Anton bat Tonya durch die Tür neben den Bücherregalen in ein großes Speisezimmer. Der runde Tisch in der Mitte war schon gedeckt und neben dem Tisch wartete bereits ein weiterer Mann, den Alpha Anton als seinen Beta Aaron vorstellte.
Schweigend nahm Tonya Alpha Anton gegenüber zwischen Beta Aaron und dem alten Alpha Tillmann Platz. Sie warteten, bis die Vorspeise serviert und gegessen war, dann erst brach Alpha Anton das Schweigen.
„Wir sind neugierig auf deine Version der Geschichte", sagte er und lehnte sich entspannt zurück.
„Nun ja", begann Tonya zögerlich. „Ich – ich bin als einzige Tochter mit vier Brüdern aufgewachsen. Ich habe mit ihnen gespielt, später mit ihnen trainiert. Ich habe alles Mögliche gemacht, aber mich nie wie ein Mädchen gefühlt und auch nie so verhalten und ich wollte auch nie einen Mate haben."
„Und dann findest du deinen Mate ausgerechnet in dem Sohn eures Alphas", kicherte der alte Alpha Tillmann. „Das hat dir wohl nicht gefallen, was?"
„Nein", lächelte Tonya entschuldigend. „Und noch weniger hat mir gefallen, dass er mich einfach mitgenommen hat, ohne mich zu fragen, ob ich das auch möchte."
„Was sein Recht war", nickte Alpha Anton.
„So sagt es das Gesetz, von Männern gemacht für Männer", bemerkte Tonya trocken.
Die Männer sahen sich kurz an, dann brachen sie in schallendes Gelächter aus.
„Also", gluggste Alpha Anton und hatte Mühe sich wieder zu beruhigen. „Dieser Teil deines Rufes stimmt jedenfalls. Wir haben gehört, du hättest sehr deutlich gemacht, dass du dich niemals diesem Gesetz beugen würdest, stimmt das?"
„Nun ja", antwortete Tonya vorsichtig. „Ich habe mich in der Tat dagegen zur Wehr gesetzt. Aber – dieses dämliche Mateband – Hendrik und ich haben uns trotzdem angenähert. Nur, ich wollte nicht einfach ein braves Hündchen sein, das folgsam hinterherläuft. Hendrik hatte es verstanden, Alpha Norman nicht."
„In diesem Punkt allerdings unterscheidet sich deine Aussage von dem Gerücht", bemerkte der alte Alpha Tillmann. „Das Gerücht besagt, du hättest dich gegen deinen Mate und gegen das Rudel entschieden."
„Ich habe mich gegen Alpha Norman entschieden", widersprach Tonya. „Alpha Norman war nicht bereit, uns die Zeit zu lassen zueinanderzufinden. Hendrik sei der zukünftige Alpha und habe zu bestimmen und ich habe zu gehorchen. Dazu war ich nicht bereit, nicht so, nicht auf diese Art und Weise. Also sollte Hendrik mich ablehnen und die Tochter eines Ratsmitgliedes zur Luna erwählen. Aber Hendrik wird mich niemals ablehnen genauso wenig, wie ich jemals seine Ablehnung annehmen würde."
„Was macht dich so sicher?", wollte Alpha Anton wissen. „Du bist noch immer nicht markiert."
„Ich wollte das Mateband nicht besiegeln, solange wir nicht offiziell zusammensein können. Ich bin rudellos und auf der Suche nach Antworten. Er ist der Sohn eines Alphas und seinem Rudel verpflichtet. Wenn mir etwas geschieht..." Tonya verstummte und senkte traurig ihren Blick.
„Du sagtest, du wärst auf der Suche nach Antworten. Auf welche Fragen?", wollte Tillmann wissen.
Jetzt zog Tonya den Talisman aus ihrem Ausschnitt und blickte auf die Münze. Sie hatte lange überlegt, welche Geschichte sie erzählen sollte, wenn man sie darauf ansprach. Jedenfalls musste es eine Geschichte sein, die ihre wahre Herkunft nicht verriet. Sienna hatte ihr sehr eindringlich dazu geraten und sie hatte sich dazu entschieden, diesem Ratschlag zu folgen.
„Ich habe diese Münze von meiner Mutter zu meinem achzehnten Geburtstag erhalten", erklärte sie. „Meine Mutter hatte kurz nach meiner Geburt diese Münze im Krankenhaus von einer der Krankenschwestern bekommen. Diese Krankenschwester erzählte ihr, dass sie eine Heilerin wäre und dies ein Talisman, den sie dem erstgeborenen Mädchen an diesem Tag in diesem Krankenhaus geben sollte. Ich war das einzige Mädchen, das an diesem Tag in diesem Krankenhaus geboren wurde. Also habe ich es bekommen. Zwei Tage später war diese Krankenschwester verschwunden. Da meine Mutter ja bereits eine Familie hatte, um die sie sich kümmern musste, konnte sie niemals Nachforschungen anstellen. Für mich aber ist es im Moment besser, so weit wie möglich vom Forster-Revier entfernt zu sein. Also habe ich mich jetzt auf den Weg gemacht, etwas über diesen Talisman in Erfahrung zu bringen. Ich habe ihn geschenkt bekommen und ich interessiere mich für die Geschichte dieses Geschenkes und ich möchte herausfinden, warum ausgerechnet ich es erhalten habe."
Tillmann hatte nur einen Blick auf die Münze geworfen und erstarrte. Seine Frau Hedwiga schien die Münze ebenfalls erkannt zu haben, denn sie keuchte kurz auf, bevor sie ihre Hand auf den Unterarm ihres Gefährten legte und sich an ihm festkrallte.
„Die Münze ist nicht vollständig", flüsterte Tillmann. „Sie hatte ursprünglich kein Loch in der Mitte. In der Mitte befand sich mit ziemlicher Sicherheit das Wappen des Silver-Rudels."

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Suche, Tonya!
WerewolfWas war bei ihrer Geburt wirklich geschehen? Warum hatte ausgerechnet sie diesen Talisman erhalten? Warum hatte sie das Gefühl, dieser Mondstein bedeutete etwas? So viele Fragen und keine Antwort darauf. Tonya wollte sich nicht einfach so unterordne...