Im Rudel der Wölfinnen kehrte ganz allmählich der Alltag zurück. Doch die Ereignisse der letzten Tage und Wochen hatten deutliche Spuren hinterlassen. Auch wenn die Frauen nun hauptsächlich wieder ihren gewohnten Arbeiten nachgingen, hatte sich doch einiges geändert.
Jeden Tag fanden nun Trainingstunden statt. An den Vormittagen trainierten die guten Kämpferinnen. Die, die von Tonya trainiert wurden und nun dafür sorgten, nichts von dem Gelernten zu vergessen, sondern das Gelernte stetig zu verbessern. Und durch Tonya ermutigt, trauten sie sich sogar, neue Techniken auszuprobieren. Häufig nahmen auch Sunja und Amira an diesem Training teil.
An den Nachmittagen trainierten die Guten die anderen, damit auch diese in der Lage waren, sich einigermaßen zu verteidigen. Und jede im Rudel hatte die Pflicht, zumindest alle zwei Tage an diesem Training teilzunehmen.
Tagsüber genügte ein Wachtposten auf der Aussichtsplattform in der Felswand, und diese Wache wurde sehr ernst genommen. Alle drei Stunden wurde gewechselt, denn diese Aufgabe erforderte hohe Konzentration und Aufmerksamkeit. Gegen Abend wurden täglich zusätzlich zwei weitere strategisch ausgewählte Posten besetzt.
Die Wölfinnen waren wachsam geworden und sie waren stets vorbereitet.
Die ehemaligen Bewohner des Dorfes hatten in einer Höhle, deren Zugang hinter dem jetzigen Rudelhaus lag, Zellen eingerichtet. Es hatte durchaus schon ein paar Gefangene gegeben, die für ihre Taten dort büsen mussten, die meiste Zeit über aber waren die Zellen unbenutzt, zumindest zu diesem Zweck. Sie wurden stattdessen häufiger als Vorratskammern benutzt. Nun aber beherbergten sie die gefangenen Rudelmitglieder des Forster-Rudels.
Amira hatte Wort gehalten. Obwohl die gefangen genommenen Männer aus dem Forster-Rudel dort immer noch angekettet waren, wurden sie bisher gut behandelt. Sie trugen alle ein eisernes Halsband, welches durch eine Kette mit einer Öse an der Wand verbunden war. Zusätzlich waren ihre Fußfesseln durch kurze Ketten miteinander verbunden, so dass sie nur kleine Schritte gehen konnten. Doch ansonsten wurden sie gut versorgt und auch nicht misshandelt.
Nur Taro, Iskas Vater, war nach wie vor in Einzelhaft. Im hintersten Eck, weitab von allen anderen, dort, wo sogar Wasser durch feine Risse im Gestein drang und Decke, Wände und Boden feucht hielten, stand seine Pritsche. Er war nicht nur über dieses eiserne Halsband an der Wand angekettet, er hatte zusätzlich noch an jedem Bein eine schwere Eisenkugel befestigt. Auch er wurde ansonsten nicht misshandelt, aber seine Nahrungsrationen waren deutlich spärlicher, er erhielt nur Wasser und Brot und einmal am Tag etwas Obst oder Gemüse.
Taro würde diese Haft so lange ertragen müssen, bis seine Tochter Iska über sein Schicksal entschieden hatte. Doch Iska war vollkommen überfordert mit dieser Aufgabe und weit davon entfernt, überhaupt eine Entscheidung treffen zu können. Sie war immer noch vollkommen verschüchtert, verwirrt und weinte sehr häufig.
Deswegen hatte Brea nicht nur die beiden jungen Frauen Nava und Leona unter ihre Fittiche genommen, sondern auch Iska. Brea hatte von ihrer Mutter viel über Kräuter und ihre Wirkungen gelernt und gab nun ihr Wissen an diese jungen Frauen weiter. Es tat ihnen gut, eine Aufgabe zu haben und gefordert zu werden, und langsam beruhigten sie sich. Das Wichtigste für sie aber war, dass keine von ihnen eine der anderen nach ihrer Geschichte fragte. Jede hatte die Freiheit, dann zu reden, wenn sie es wollte und wenn sie bereit dazu war. Und jede von ihnen wusste, dass dann auch jemand da sein würde, der zuhörte.
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Sienna hatte sich zurückgezogen. Wie so oft saß sie in ihrem Haus oben in dem Raum, in dem Tonya die Wahrheit über ihre Herkunft erfahren hatte. Vor ihr auf dem niederen Tischchen lagen zwei Kästchen. In einem dieser geöffneten Kästchen leuchtete eine Locke von Tonyas rötlichem Haar und in dem anderen Kästchen lag eine dunkelblonde Strähne von Hendrik.
Sie hatte Tonya nur erzählt, dass sie in der Lage war Gedanken zu lesen und in das Unterbewußtsein einzudringen, um dort Erinnerungen aufzuspüren, wenn sie die betreffende Person berührte. Tonya hatte nicht weiter nachgefragt und sie war froh darüber gewesen, denn sie hätte sie nicht anlügen wollen. Wie hätte Tonya wohl reagiert, wenn sie erfahren hätte, dass sie über einen persönlichen Gegenstand ebenfalls eine Verbindung zu dem Geist der betreffenden Person aufnehmen konnte?
Immer wieder hatte sie sich in den letzten Tagen hierher zurückgezogen, um genau das zu tun. Immer wieder hatte sie Tonyas Haarsträhne, die sie ihr im Schlaf abgeschnitten hatte, dazu benutzt, um ihren Weg zu verfolgen.
So wusste sie, dass Tonya die Männer an der Grenze zum Forster-Revier freigelassen hatte. Sie wusste, dass Tonya allein weitergelaufen war und beim Welter-Rudel zu Gast war. Sie kannte Tonyas Gedanken, die sich um all die Informationen drehten, die sie dort erhalten hatte. Und jetzt war sie hier, um herauszufinden, was Tonya weiterhin vorhatte.
Es war dunkel in diesem Raum. Vor ihr auf dem Tisch stand eine Schale mit Wasser, in der ein kleines Schälchen schwamm. Sorgsam hatte sie einige Kräuter zusammengestellt und diese über einem glimmenden Hölzchen in diesem Schälchen gestreut. Die getrockneten Kräuter hatten angefangen zu glimmen und eine feine Rauchsäule stieg nach oben. Sienna legte Tonyas Locke zwischen ihre Hände und hielt diese über die Rauchsäule. Dann schloss sie die Augen, konzentrierte sich auf ihre Atmung und ließ ihren Geist frei.
Mit Tonyas Augen blickte Sienna über die Ebene und dann wieder auf die Münze in der Hand. Sienna lauschte ihren Gedanken. Sie war sehr vorsichtig, denn Tonya durfte nicht bemerken, dass sie da war. Noch immer hatte sich Tonya nicht entschieden, in welche Richtung sie weitergehen sollte. Noch immer überlegte sie, ob es Sinn machte, zum Minster-Rudel zu gehen, oder ob es nicht besser wäre, dem Sander-Rudel einen Besuch abzustatten. Dann aber verwarf sie sowohl die eine als auch die andere Möglichkeit. Wenn sie etwas über ihren Vater und über diesen Talisman erfahren wollte, musste sie die Hexe finden. Die Hexe in den Bergen. Und in diesem Augenblick wusste Tonya, wo sie hingehen musste.
Sienna zog sich zurück. Sie war zufrieden. Tonya war auf dem richtigen Weg, sie war auf dem Weg zur alten Hexe Runa in den Silver-Bergen.
Sorgsam legte Sienna Tonyas Locke in das Kästchen zurück. Dann hob sie das schwimmende Schälchen aus der mit Wasser gefüllten Schale und legte vorsichtig ein neues Schälchen auf die Wasseroberfläche. Sie entzündete ein weiteres kleines Holzstäbchen und legte es in dieses Schälchen. Geduldig wartete sie, bis das Holzstäbchen nur noch glimmte. Dann streute sie erneut einige getrocknete Kräuter darüber und wartete, bis diese feine Rauchsäule entstand. Dann erst nahm sie Hendriks Haare in ihre Hände und hielt sie über den Rauch, schloss die Augen, konzentrierte sich erneut auf ihre Atmung und gab ihren Geist frei.
Mit Hendriks Augen blickte sie zu Florian, der ihm folgte und wandte sich dann wieder nach vorne. Sienna lauschte auch seinen Gedanken. Sie waren an der Grenze zum Welter-Rudel angekommen. Sienna wusste zwar, dass Alpha Anton vom Welter-Rudel über die Matebindung zwischen Hendrik und Tonya Bescheid wusste, aber würde er Hendrik deswegen genügend Vertrauen entgegenbringen?
Vorsichtig zog sie sich auch aus Hendriks Gedanken zurück. Sie waren alle in Sicherheit und es ging ihnen gut. Doch vor Tonya lag das Gebiet des Sander-Rudels und Alpha Turkan und seinem Onkel Vito war nicht zu trauen. Tonya würde Hilfe brauchen und nicht nur die Hilfe starker Kämpfer. Tonya würde auch ihre Hilfe brauchen.
Und es wurde Zeit, dass auch sie ihr alles erzählte, was sie wusste.
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Suche, Tonya!
Hombres LoboWas war bei ihrer Geburt wirklich geschehen? Warum hatte ausgerechnet sie diesen Talisman erhalten? Warum hatte sie das Gefühl, dieser Mondstein bedeutete etwas? So viele Fragen und keine Antwort darauf. Tonya wollte sich nicht einfach so unterordne...