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Schlagartig änderte sich die Stimmung.

Der erste, der begriff, was dies alles bedeutete, war Alpha Anton. Sofort gab er seinen Männern den Befehl in Kampfstellung zu gehen und sich an der Grenze entlang aufzustellen. Wenn Alpha Turkan erkannte, wen er tatsächlich als Geisel hatte, könnte es für Tonya lebensgefährlich werden.

Auch Hendrik reagierte schnell, lief an der Grenze entlang auf Tonya zu und stellte sich in ihrer Nähe auf, um, wenn nötig, schnell vor sie zu springen und sie mit seinem Körper schützen zu können. Auch er beobachtete Alpha Turkan genau.

Ortwin starrte dagegen immer noch Agnis an, die ihn nun voller Freude anlächelte.

„Sie lebt", rief sie. „Hast du verstanden? Deine Schwester lebt." Sie hatte Ortwins Arm ergriffen und schüttelte ihn leicht.

„Schwester?"

„Ja, Elric", nickte Sienna und schob Tonya zu ihrem Bruder hinüber. „Das hier ist deine Schwester Tonya."

„Elric?", brüllte Alpha Turkan entsetzt. „Du bist Elric Silvan? Und dieses kleine Biest ist ebenfalls eine Silvan?"

Die Spannung stieg und schien plötzlich greifbar zu werden.

Turkan und seine Männer waren drohend nähergekommen. Hendrik wollte sich direkt vor Tonya stellen, doch Sienna, die die ganze Zeit über Tonyas Hand gehalten hatte, stellte sich ihm in den Weg. Von den anderen unbemerkt legte sie ihre Hand auf seinen Arm, blickte ihn kurz an und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Hendrik hielt inne.

Elric Silvan, der bisher unter dem Namen Ortwin gelebt hatte, hatte sich blitzschnell wieder in einen Wolf verwandelt und sich drohend knurrend vor die Frauen gestellt. Auch seine Wölfe kamen näher und bildeten mit ihrem Alpha in der Mitte eine Reihe kampfbereiter Wölfe.

Die Zeit schien still zu stehen.

Jeder beäugte den anderen misstrauisch und jeder schien auf das Kommando zu warten, welches das Chaos entfachen würde. Und nicht nur die Zeit schien stillzustehen, auch die Wölfe standen unbeweglich und lauernd und zwischen ihnen die Alphas Turkan, Anton und Hendrik sowie die Frauen noch immer in ihrer Menschengestalt.

Es war Tonya, die die unerträglich angespannte Stille durchbrach. Gelassen trat sie hinter Alpha Ortwin hervor und stellte sich zwischen die Fronten.

„Nun denn", sagte sie laut und deutlich und blickte sich herausforderd um. „Das Geheimnis ist gelüftet. Ja. Ich bin eine Silvan. Und wo bitte ist das Problem?"

Sie wandte sich an Alpha Ortwin. „Agnis hatte dich in Sicherheit gebracht und Sienna hatte unsere Mutter begleitet, die mit mir schwanger war. Du bist mein Bruder. Es gibt viel zu besprechen, Bruder, und sehr viel zu erzählen. Ich hoffe, du gewährst mir Gastfreundschaft in deinem Haus?"

Ortwin blieb in seiner Wolfsgestalt, stellte sich nun aber neben Tonya und stupste sie zustimmend mit seiner Schnauze an.

Fast gelangweilt drehte sich Tonya nun zu Alpha Turkan um.

„Du hast mich als Geisel genommen." Spöttisch lächelte sie ihn an. „Ich glaube kaum, dass ich noch länger deine Geisel bin. Es sei denn, du legst Wert auf einen hässlichen Kampf."

Ohne Alpha Turkan aus den Augen zu lassen, ging sie einige Schritte auf ihn zu, wurde aber von Sienna aufgehalten.

„Ich denke, es ist an der Zeit, dass du mir den Schlüssel für das Halsband gibst", forderte sie ihn auf. „Und meinen Talisman will ich auch zurück."

Alpha Turkan wollte widersprechen, doch er brachte kein Wort heraus. Stattdessen starrte er Tonya an, zunächst unfähig, sich zu bewegen. Von einem kleinen braven Mädchen war nichts mehr zu sehen. Vor Alpha Turkan stand urplötzlich eine stolze, selbstsichere und starke Frau, die ihn mit hypnotisierend gelbgrünen Augen anblickte und ihn so problemlos in Schach halten konnte. Fast willenlos griff er in die Tasche, die er über der Schulter hängend trug, holte dort einen Schlüssel heraus und den Lederriemen mit dem Talisman und dem Säckchen mit dem Mondstein darin und reichte beides dem Wolf, den Alpha Ortwin aus seinen Reihen vorgeschickt hatte.

„Danke", lächelte Tonya übertrieben freundlich und Sienna nahm dem Wolf die Sachen ab. Ohne Alpha Turkan aus den Augen zu lassen, hielt sie still als Sienna das Schloss an ihrem Halsband aufschloss, beides achtlos auf den Boden fallen ließ und ihr anschließend das Lederband mit ihrem Talisman umhing. Dann erst brach sie den Blickkontakt ab und drehte sich um.

„Und nun zu dir!" Tonya wandte sich an Hendrik. „Du hast den weiten Weg gemacht, um mich zu holen? Willst du jetzt doch deinem Vater gehorchen und mich ablehnen?"

Hendrik wollte etwas erwidern, doch Tonya hob herrisch ihre Hand.

„Ich werde mich dir nicht unterwerfen und deinem Vater erst Recht nicht", sagte sie mit fester Stimme. „Und ich kann mir nur schwer vorstellen, dass du eine solche Luna überhaupt haben möchtest."

‚Bist du irre?', brüllte Yani.

‚Oh hallo. Ich dachte schon, dich gibt es nicht mehr', antwortete Tonya ungerührt.

‚Ich war immer da', schnaubte Yani.

‚Ach wirklich?', fauchte Tonya. ‚Seit ich Hendrik das letzte Mal gesehen habe, habe ich von dir nichts mehr gehört. Und ich hätte dich verdammt nochmal mehr als nur einmal gebraucht. Ich habe mich entschieden und du wirst nichts mehr daran ändern können.'

Für diesen kurzen Moment hatte Tonya ihren Kopf gesenkt. Jetzt blickte sie Hendrik wieder direkt in die Augen.

„Ich mache es dir leicht, Hendrik Kaaden. Ich, Tonya Silvan, lehne dich, Hendrik Kaaden ab. Du solltest zustimmen und zu deinem Rudel zurückkehren."

Hendriks Miene war wie versteinert. Ihre Blicke versanken ineinander und beiden war nicht anzusehen, was in diesem Moment wirklich in ihnen vorging. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Hendrik sich schließlich breit grinsend direkt ein paar Schritte zurückzog.

„Du hast Recht, Tonya Silvan. Ich Hendrik Kaaden nehme die Ablehnung an."

Ohne auf die entsetzten Blicke der anderen zu achten und ohne seinen Blick von Tonya abzuwenden, wich Hendrik immer noch grinsend weiter zurück, verwandelte sich und lief gemächlich davon.

Suche, Tonya!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt