Das Ende

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Jocelyn blickte hinunter auf das blasse, ausdruckslose Gesicht ihres Bruders und es war ihr, als würde sie in einen tiefen Abgrund starren. Sie fiel, immer tiefer und tiefer....
Plötzlich war Draco bei ihr. Er packte sie bei den Schultern.
„Komm hoch, Jocelyn", sagte er und versuchte, sie auf die Beine zu ziehen.
Jocelyn wehrte sich. „Lass mich", schluchzte sie.
„Du kannst nichts mehr tun", sagte Draco und seine sanfte Stimme war zu viel für sie. Sie war sich sicher, hier und jetzt zusammenbrechen zu müssen. Draco zog sie auf die Beine und schlang fest die Arme um ihre Mitte, als hätte er Angst, sie könnte zu Voldemorts stürmen, um ihm die Augen auszukratzen, oder sonst etwas Dummes tun.
„Potter!", hörte sie ihn da plötzlich ungläubig flüstern. Obwohl seine Stimme nur schwer zu ihr durchdrang und ihr Inneres voller Schmerz war, der sie zu zerreißen drohte, riss das Jocelyn etwas aus ihrem benommenen Zustand.
Harry. Jocelyn starrte mit blinden Augen auf den braunhaarigen Gryffindor, der plötzlich wieder auf den Beinen war, der lebte, und mit erhobenem Zauberstab Voldemort taxierte.
Voldemort und Harry umkreisten einander.
„Es gibt keine Horkruxe mehr", sagte Harry gerade. „Nur uns beide."
„Du denkst, du kannst mich besiegen? Ich habe Zauber vollbracht, die Dumbledore sich nicht einmal im Traum hätte vorstellen können."
„Er konnte es, aber er wusste genug, um nicht das zu tun, was du getan hast. Er war ein klügerer Mann, ein besserer Zauberer."
„Ich habe den Tod von ihm herbeigeführt!"
„Das dachtest du. Aber er wählte selbst, wie er sterben wollte. Snape war nicht dein Mann. Snape war Dumbledores Mann."
Jocelyn hörte benommen, wie Harry davon sprach, dass Snape seine Mutter geliebt hatte und seit ihrem Tod auf Dumbledores Seite war. Snape, tot. Jocelyn dachte an ihren Hauslehrer, an die Momente, in denen sie gespürt hatte, dass da etwas Sanfteres, Wärmeres, hinter seiner kalten, gemeinen Fassade war.
Plötzlich war die Luft zum Zerreißen gespannt. Sie spürte, dass der Moment gekommen war.
Voldemort kreischte: „Avada Kedavra!"
Und Harry rief: „Expelliarmus!"
Ein ohrenbetäubender Knall erklang und dort, wo sich die beiden Zauber trafen, loderten goldene Flammen auf. In gespenstischer Anmut wurde Voldemort der Zauberstab aus der Hand gerissen und flog durch die Luft zu Harry, der ihn mit der Sicherheit eines Suchers auffing. Im nächsten Augenblick fiel Voldemort mit ausgebreiteten Armen nach hinten und schlug tonlos auf dem Boden auf, wo er sich nicht mehr rührte.

Die Sonne war gerade dabei, aufzugehen, und färbte den Himmel rot. Sie spiegelte sich in den zerbrochenen Scheiben des Schlosses wider. Jocelyn saß abseits des Trubels. Aus der Ferne konnte sie den Siegeslärm hören. Auf ihrem Schoß ruhte Lorcans Kopf. Sie strich mit manischen Bewegungen über sein dunkles Haar, während sie hinaus auf das Schlossgelände starrte.
Hinter sich konnte sie Schritte hören, aber sie rührte sich nicht. Draco ging neben der Stelle, wo sie auf dem Gras saß, in die Knie und strich ihr sachte über ihr Haar. Als plötzlich noch jemand vor sie trat und nun ebenfalls in die Knie ging, sah Jocelyn doch hoch von Lorcans blassem, reglosem Gesicht. Sie blickte geradewegs in Narcissa Malfoys blasse Augen. Automatisch zuckte sie zusammen. Dracos Mutter hatte sich nach Voldemorts Tod die Maske vom Gesicht gerissen und war zu Draco gerannt, der sie in die Arme geschlossen hatte, während ihm stumm Tränen die Wangen hinuntergelaufen waren. Jocelyn wusste, was für große Sorgen er sich um seine Mutter gemacht haben musste, war sie doch seine einzige Familie.
„Dein Verlust tut mir sehr leid, Jocelyn", sagte Narcissa leise.
Jocelyn merkte, wie etwas Heißes in ihrem Inneren hochkam. „Leid?", fragte sie erstickt. „Sie waren es doch, die ihn eine Teufelsbrut genannt hat!"
Sie merkte, wie sich Draco in ihrem Rücken bewegte, aber sie starrte weiterhin Narcissa an, die nun die Augen niederschlug.
„Was ich getan habe, war ein fürchterlicher Fehler, Jocelyn. Ich war außer mir vor Schmerz wegen Lucius' Tod. Ich sehe nun, was du Draco bedeutest und was er dir bedeutet."
Jocelyn wandte den Kopf ab, wollte und konnte das nun nicht hören.
„Ich möchte allein sein", sagte sie mit brüchiger Stimme.
„Jocelyn...", sagte Draco, aber sie unterbrach ihn. „Bitte."
Sie konnte hören, wie er sich aufrichtete und Narcissa tat es ihm gleich. Langsam entfernten sich ihre Schritte, bis Jocelyn wieder allein mit ihrem Schmerz war. Sie blickte zu Lorcans toten Körper hinunter und hatte das Gefühl, als hätte eine mächtige Hand ihre Haut durchstoßen und würde nun ihre Eingeweiden umklammert halten.
Voldemort war tot. Sie hatte das noch nicht einmal im Ansatz verarbeitet. Ein Teil von ihr war von überwältigender Erleichterung erfüllt, doch der andere konnte vor Schmerz nicht klar denken. Alles, was sie wusste, war, dass Lorcan dieses Ende nicht verdient hat, dass er nichts von alldem verdient hat.
Plötzlich brach sich ein Schrei aus ihrer Kehle frei, voller Wut und Schmerz.

Harry fühlte sich unendlich müde. Die Menschen sprachen mit ihm und tätschelten seine Schultern, umarmten ihn, aber all das ging wie im Nebel an ihm vorbei. Alles, woran er denken konnte, waren die Menschen, die er verloren hatte wegen dieses Kriegs, die Menschen, die andere wegen ihm verloren hatten. In einem unbemerkten Augenblick entfernte er sich und lief hinaus aus dem Schloss. Er atmete gierig die frische Luft ein und nahm plötzlich eine schmale, kleine Gestalt mit flammend rotem Haar wahr, die sich, halb verborgen durch den mächtigen Schatten des Baumes, unter dem sie saß, über etwas im Gras beugte.
Obwohl er nicht sicher war, ob er schon stark genug für diese Begegnung war, lief Harry langsam hinüber zu Jocelyn. Mit einigem Abstand zu ihr blieb er stehen. Er schluckte, als er Lorcan Fortescues leblosen Körper im Gras liegen sah.
„Glückwunsch", sagte Jocelyn mit fast tonloser Stimme, nachdem sie beinahe fünf Minuten geschwiegen hatten.
Als ob sie damit eine Einladung ausgesprochen hätte, ließ Harry sich, immer noch mit Abstand, neben sie ins Gras fallen. „Es tut..."
„Nicht", unterbrach ihn Jocelyn und sah ihn kurz an. Ihr Gesicht sah fremd aus. „Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen musst."
Harry ließ langsam den Kopf auf seine angezogenen Knie sinken und atmete langsam aus, während sich eine überwältigende Erschöpfung in ihm breit machte.
Minutenlang saßen sie schweigend da. Jocelyn war die erste, die sich rührte. Sie rieb sich die Wangen mit dem schmutzigen Ärmel trocken, schob Lorcans Kopf sanft von ihrem Schoß und legte ihn auf dem Rasen ab. Sie beugte sich über ihn und Harry wandte mit einem Kloß im Hals den Blick ab, als sie ihm einen letzten Kuss auf die Stirn hauchte. Jocelyn stand auf und sah Harry kurz an.
„Kannst du ihn...", ihre großen, blassblauen Augen wanderten in Richtung des Schlosses, wo die restlichen Toten in einer Reihe in der Großen Halle aufgebahrt waren. „Ich kann nicht...", mit erstickter Stimme brach sie ab.
„Ja", sagte Harry nur, bevor er ebenfalls aufstand.
„Danke", sagte sie, dann entfernte sie sich mit langsamen, hölzernen Schritten von ihm.

Burning DarknessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt