Die neue Welt

42 2 0
                                    

Harrys Augen drohten immer wieder zuzufallen. Im flackernden Licht des Kaminfeuers, das langsam herunterbrannte, studierte er zum beinahe hundertsten Mal die Pläne, die sie innerhalb der letzten vier Wochen von dem Ministeriumsgebäude angefertigt hatten. Ron, Hermine und er hatten sich abwechselnd den Tarnumhang angezogen und den offiziellen Eingang des Ministeriums ausspioniert, den Ron dank seines Vaters seit seiner Kindheit kannte. Sie hatten Ministeriumsbeamte auf ihrem Weg hinein beschattet und durch sorgfältige Beobachtungen erfahren, welche von ihnen jeden Tag zuverlässig zur selben Zeit allein auftauchten. Vorhin, beim Essen, hatte Harry schließlich die Entscheidung getroffen, die sie schon längst hätten treffen sollen: Morgen würden sie ins Ministerium einbrechen und versuchen, Umbridge den Horkrux – die Halskette – zu entwenden. Es hatte keinen Sinn, noch länger zu warten. Die Situation würde niemals ungefährlich werden und der Plan konnte noch so perfekt ausgeklügelt sein- es gab immer gewisse Details, die sie nicht vorausplanen konnten. Doch obwohl er vorhin, im Gespräch mit Hermine und Ron, versucht hatte, zuversichtlich zu klingen, war er voller Zweifel. Zeitweise fraß ihn die Angst beinahe auf. Die Angst, dass alles schrecklich schief laufen würde, dass er Ron und Hermine geradewegs in den Tod steuerte. Es war die Last der Verantwortung, die ihn hinunter auf seinen Stuhl drückte und ihn nicht aufstehen und ins Bett gehen ließ.
Du kannst das nicht allein machen. Du solltest das nicht allein machen.
Harry wusste nicht, warum er gerade Jocelyns Stimme im Ohr hatte. Tatsächlich ertappte er sich öfters dabei, wie er nachts, kurz bevor der Schlaf ihn in sein dunkles, schweres Tief des Vergessens riss, an sie dachte. Immer wieder wälzte er im Kopf ihr letztes Gespräch herum.
Ich möchte, dass du es einmal hörst. Ich mag dich, Jocelyn. Ich mag dich sehr.
Die Erinnerung an seine Worte verursachte ihm jedes Mal fast schon körperliche Qualen und doch konnte er ebenjene nicht bereuen. Es war gut, es war richtig, dass er es einmal ausgesprochen hatte. Möglicherweise hätte er sich sonst immer gefragt, was wäre gewesen wenn.
„Harry, du solltest schlafen."
Hermines Stimme riss Harry aus seinen Gedanken und er merkte, dass seine Augen fast zugefallen waren. Er drehte ruckartig den Kopf herum und sah Hermine in der Tür stehen, schon im Pyjama. Ihre buschigen Haare waren noch zerzauster als sonst und wie sie da stand, mit ihren bloßen Füßen und der Falte zwischen ihren Augenbrauen, würde das drückende Gefühl von Angst und Verantwortung in Harry noch stärker.
„Ich kann das nicht tun, Hermine.", sagte er gequält.
Die Falte wurde tiefer.
„Was meinst du?", sie lief zu ihm und setzte sich neben ihm an den Tisch.
„Ich kann dich und Ron nicht dieser Gefahr auszusetzen. Ihr müsst mich das alleine machen lassen."
Hermine zog ihre Augenbrauen fast bis zu ihrem Haaransatz hoch.
„Du willst also alleine in das Ministerium einbrechen und Umbridge den Horkrux stehlen?"
Harry schwieg und vergrub das Gesicht in den Händen.
Hermine legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Harry", sagte sie sanft. „Ron und ich haben diese Entscheidung schon längst getroffen, versuche nicht, sie für uns zu treffen. Wir sind uns des Risikos bewusst, aber wir werden es eingehen und zwar nicht nur deinetwegen. Es geht inzwischen um weit mehr. Jeder von uns hat durch Voldemort und seine Anhänger schon Leid erfahren müssen. Ich kann nicht untätig herumsitzen und Ron ebenso wenig. Du siehst selbst, was da draußen passiert. Unter der Herrschaft von Voldemort wird die Welt, so wie wir sie kennen, immer weiter zugrunde gerichtet. Allein die Tatsache, dass Muggelstämmige nun ihren Blutstatus im Ministerium hinterlegen müssen, dass Schlammblüter wie ich"- sie verzog voller Verbitterung den Mund- „nicht einmal mehr Hogwarts besuchen dürfen- all das Harry, all das! Verstehst du nicht? Das ist nicht nur dein Kampf."
„Ich möchte nicht, dass du dich so nennst.", sagte Harry und schüttelte den Kopf.
Hermine seufzte und drückte Harrys Schulter.
„Ich möchte doch nur, dass du es verstehst."
Harry nickte, langsam und erschöpft. „Ich verstehe, was du meinst, Hermine, aber dennoch habe ich-"
„Ich weiß, Harry, ich weiß, die habe ich auch.", unterbrach Hermine ihn.
Schweigend saßen sie nebeneinander am Küchentisch. Hermine hob den Tagespropheten hoch, der da neben den Skizzen lag. Darauf stand das heutige Datum geschrieben 1. September.
„Schon merkwürdig, oder?", flüsterte Hermine. „Zu wissen, dass der Hogwarts-Zug heute ohne uns abgefahren ist."
Harry sah die scharlachrote Dampflok vor sich, erinnerte sich an das Gefühl, darin zu sitzen, an diese wunderbare Gewissheit, dass er nach Hause kommen würde.
Ohne Vorwarnung schoss ein brennender Schmerz durch seine Narbe und er spürte Wut und Erregung, Empfindungen, die nicht die seine waren. Heftig und kurz, fast wie ein elektrischer Schlag, pulsierten sie durch seinen Körper.
„Harry?"
Er spürte Hermines besorgten Blick auf sich. Er wollte verhindern, dass sie wieder anfing, ihn zu tadeln, weil er sich nicht genug bemühte, die Verbindung zwischen ihm und Voldemort zu unterbrechen, weshalb er lächelte und murmelte: „Bin ziemlich müde."
Er stand auf und ging, so schnell er konnte, ohne zu rennen, aus der Küche. Er schaffte es gerade noch. Mit zitternden Händen verriegelte er die Badezimmertür, bevor er keuchend zu Boden sank, den Kopf mit seinen Händen umklammernd. Der Schmerz stieg an und er spürte, wie der Zorn, der nicht ihm gehörte, von seiner Seele Besitz ergriff und das Badezimmer vor seinen Augen verschwamm. Er schloss sie und war plötzlich dort.
Das Dort stellte einen langen Raum dar, nur von einem Kaminfeuer beleuchtet.
„Du törichtes Kind. Deine blutsverräterische Tante hat dir wohl den Kopf vernebelt.", sprach Harry mit hoher, gnadenloser Stimme. Er hielt den Zauberstab in der ausgestreckten Hand und unter ihm lag zusammengekauert eine zierliche Gestalt mit feuerroten Haaren. „Du hast meine treueste Dienerin getötet. Sag mir auch nur einen Grund, warum ich dein jämmerliches Leben verschonen sollte." Harry lachte auf, es war ein kalter, grausamer Laut.
Vom Boden stieg etwas auf, ein gekeuchtes Wort, flehend, hoffnungslos.
„Bitte"
„Möchte vielleicht dein Bruder weitermachen?", zischelte Harry und drehte den Kopf nach links. Dort stand ein hochgewachsener Junge mit bleichem, harten Gesicht und blassblauen Augen, der die Szene mit starrer Miene betrachtete. Im Feuer fiel ein Holzscheit: Flammen loderten auf und ihr Licht spiegelte sich in den leblosen Augen des Jungen wieder. Es wirkte, als würde sich hinter dem hellen Blau keinerlei Leben mehr befinden.
Mit dem Gefühl, als würde er aus tiefem Wasser auftauchen, schnappte Harry nach Luft und riss die Augen auf. Er lag flach auf dem kalten schwarzen Marmorboden im Bad und zitterte am ganzen Körper.
Es klopfte heftig an der Tür und Harry zuckte zusammen.
Hermines Stimme, laut und besorgt.
„Harry! Harry, was ist los? Schließ die Tür auf!"
Harry konnte sich nicht rühren, zu real war das Gefühl, immer noch in diesem Raum zu sein und mit dem Zauberstab ebenjene Person zu foltern, der er niemals auch nur ein Haar krümmen könnte.
Jocelyn.
Er merkte erst nach ein paar Sekunden, dass er ihren Namen laut ausgesprochen hatte.
Hermine klopfte immer noch, doch Harry hörte sie kaum durch das Rauschen in seinen Ohren.
Möchte vielleicht dein Bruder weitermachen?
Wie durch dichten Nebel hörte Harry sich auf keuchen.
Jocelyn, zusammengekrümmt auf dem Boden, ihr tiefrotes Haar neben ihr ausgebreitet, fast wie frisches Blut...
Mit viel Mühe schaffte Harry es, sich zur Toilette zu ziehen, bevor er sich erbrach.

Ginny lag mit weitgeöffneten Augen in ihrem Bett im Schlafsaal. Die Decke bis an ihr Kinn gezogen, lauschte sie dem gleichmäßigen Atmen der anderen. Wie konnten sie nur friedlich schlafen, während alles um sie herum so furchtbar schief lief?
Ginny hatte die letzten Wochen einen Kampf mit ihrer Mutter ausgefechtet, die sie am liebsten gar nicht zurück nach Hogwarts hatte gehen lassen wollen. Doch sie hatte keine andere Wahl gehabt, als sie dorthin zu schicken. Der Schulbesuch war jetzt zur Pflicht geworden für alle jungen Hexen und Zauberer, Voldemort wollte wohl sicherstellen, dass er die Zaubererbevölkerung bereits von einem sehr jungen Alter an unter seiner Kontrolle hatte. Doch nicht nur das hatte sich geändert, jeder von ihnen hatte vor dem Beginn des neuen Schuljahres einen Blutstatus erhalten müssen- das heißt, sie hatten allesamt im Ministerium nachweisen müssen, dass sie von Zauberern abstammten. Muggelstämmigen wurde der Schulbesuch verboten.
Ginny spürte, wie das Blut in ihrer Schläfe pochte, als sie wieder einmal über diese Ungerechtigkeit nachdachte, sich vorstellte, wie vielen kleinen elfjährigen muggelgeborenen Zauberern und Hexen nun die Freude verwehrt worden war, nach Hogwarts zu gehen.
Doch möglicherweise fast das Schlimmste von allem war die Tatsache, dass Snape nun Dumbledores Platz eingenommen hatte und der neue Schulleiter war.
Ginny dachte an das Abendessen, daran, wie Snape auf Dumbledores Stuhl an dem großen Lehrertisch gethront hatte- mit schwarzen, harten Augen und unberührter Miene. Seine kurze Rede hatte er mit öliger, leiser Stimme vorgetragen und Ginny hatte Dumbledore in diesem Moment mehr vermisst, als jemals zuvor. Sie hatte an seine bunten, herrlichen Umhänge denken müssen, an sein strahlendes Lächeln und seine Witze während der Rede und die Trauer hatte sie beinahe überrannt.
Sie hatte sich grauenhaft allein gefühlt am Gryffindor-Tisch, ganz ohne ihre Brüder, Harry und Hermine. Es war das erste Schuljahr, wo sie sich nicht würde fragen müssen, wer gemeint ist, wenn ein Lehrer an den Gryffindor-Tisch kam und „Weasley!" rief, denn nur noch sie war übrig geblieben.
Doch es fehlten nicht nur Ron, Harry und Hermine. Ginny fand, dass die Haustische nun schrecklich verwaist wirkten- natürlich, fehlten doch alle Muggelstämmige. Auch sonst waren ein paar Schüler nicht aufgetaucht zum neuen Schuljahr. Sie waren wohl mit ihren Familien untergetaucht. Ginny hoffte, dass sie es schafften, nicht geschnappt zu werden.
Vorhin, beim Abendessen, als sie den Blick den Lehrertisch rauf und runter wandern lassen hatte, war ihr Blick auch auf die zwei Neuen im Kollegium gefallen. Die Carrow-Geschwister. Alecto und Amycus Carrow, beides Todesser. Während Alecto Carrow ab sofort die Stelle der Muggelkundelehrerin inne hatte, lehrte ihr Bruder Amycus Carrow nun Verteidigung gegen die dunklen Künste.
Während Snape die beiden Neuzugänge mit sonorer, emotionsloser Stimme ankündigte, herrschte Totenstille in der Halle. Die beiden Geschwister, untersetzt und mit plumpen, groben Gesichtszügen, hatten sich davon reichlich unbeeindruckt gezeigt. Mit einem fast identischen ekligen Grinsen hatten sie Snapes Rede gelauscht.
Was für eine Farce. Was für eine Ironie.
Ein Todesser, der Verteidigung gegen die dunklen Künste unterrichtete.
Ginny ahnte, dass die beiden Schulfächer ab sofort eine ganz andere Richtung einschlagen würden. Sie war fast schon froh, nicht das Fach Muggelkunde zu belegen. Sie wollte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, was Alecto den Schülern ab sofort lehren würde.
Es war eine Tragödie, es war falsch und das Erschreckendste an allem war ihrer aller Hilflosigkeit. McGonagall, Flitwick, Sprout und Hagrid und die anderen Lehrer hatten mit bleichen, starren Gesichtern neben den Todessern an der Tafel gesessen und es war nur zu offensichtlich gewesen, wie unerträglich all das für sie war.
Ginny fühlte sich, als wäre sie inmitten eines grauenhaften Albtraums aufgewacht.
Sie wälzte sich im Bett hin und her und die Anstrengung, nicht zu weinen, wurde immer größer. Doch sie wollte nicht weinen, sie wollte sich nicht eingestehen, wie hilflos sie war.
Sie wünschte sich, sie wäre da draußen, mit Ron und den anderen oder Teil des Ordens, sie wünschte, sie könnte irgendetwas tun, aber das ging nicht.
„Du bist erst sechzehn Jahre alt, Ginny. Auf keinen Fall!", hörte sie wieder die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf.
Es dauerte fast bis zum Morgengrauen, bis sie schließlich vollkommen erschöpft vom Schlaf übermannt wurde. Ihre Träume waren durchzogen von einem blassblauen Augenpaar hinter einer Todessermaske.

Burning DarknessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt