Im Kreise der Familie

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Jocelyn sah abwesend aus dem Fenster und beobachtete die feinen Schneeflocken, die in der Luft herumwirbelten. Eine Stunde nach dem Quidditchspiel, bei dem Gryffindor gegen Slytherin gewonnen hatte, hatte der erste Schneefall dieses Jahr eingesetzt. In drei Wochen waren Weihnachtsferien und die anderen Mädchen im Schlafsaal erzählten schon freudig, was ihre Pläne für die schulfreie Zeit waren. Betrübt dachte Jocelyn, dass ihr Weihnachten wohl sehr trostlos und einsam werden würde. In den Jahren zuvor hatte sich Tante Fiona immer bemüht, ihr schöne Festtage zu bereiten und dies war ihr auch jedes Mal gelungen. Sie würde sie dieses Jahr schmerzlich vermissen, das wusste Jocelyn jetzt schon. Ihre Wärme, ihre Herzlichkeit und das behütete Gefühl, das sie ihr immer gegeben hatte. In Jocelyns Kehle hatte sich ein Kloß gebildet, den sie krampfhaft wegzuschlucken versuchte. In diesem Moment strömten ein paar Gryffindors in den Gemeinschaftsraum, die alle noch die Mannschaftsschäle trugen. Katie Bell war eine von ihnen. Sie sah sich suchend im Raum um und erblickte schließlich Jocelyn. Zielstrebig lief sie auf sie zu. Jocelyn richtete sich überrascht auf. „Jocelyn? Malfoy will mit dir reden.", Katie verzog abwertend das Gesicht, als sie seinen Namen aussprach. Jocelyn runzelte verwirrt die Stirn. Doch Katie ließ ihr keine Zeit mehr zu reagieren, sondern lief schnurstraks zu den anderen zurück. Es war offensichtlich, wie wenig sie von ihr hielt. Natürlich, dachte Jocelyn grimmig, schließlich bin ich eine Fortescue. Was sollte sie schon erwarten? Sie erhob sich von der Fensterbank und lief durch den Raum zum Porträtloch. Sie kletterte hinaus und sah Draco an der Wand neben dem Eingang lehnen.
„Na, endlich!", sagte er genervt und musterte sie abfällig von oben bis unten. Er löste sich von der Wand und trat vor sie. Er hob eine Hand und zupfte mit missbilligender Miene an ihrem Gryffindor- Schal, den sie noch trug.
Genervt schlug Jocelyn seine Hand weg. „Was willst du, Draco?", wollte sie ungehalten wissen. „Nicht hier.", er nickte mit dem Kopf in Richtung Neville, der gerade an ihnen vorbeilief, und grinste spöttisch. Widerwillig ließ sich Jocelyn von Draco mitziehen, als sie hinter sich Nevilles Stimme vernahm. „Jocelyn?" Sie zwang Draco zum Stehenbleiben und wandte sich um. „Ja?"
Nevilles Blick huschte unruhig zwischen ihr und dem Slytherin hin und her, bis er schließlich beschämt murmelte: „Was ist nochmal das Passwort?"
Draco stieß ein hämisches Lachen aus. Jocelyn schenkte ihm einen vernichtenden Blick und nannte Neville rasch das Passwort.
„Jetzt könnte ich in euren Gemeinschaftsraum, wenn ich wöllte.", triumphierte Draco höhnisch, während er sie weiterzog. „Nicht, dass ich da jemals freiwillig rein würde."
Jocelyn ignorierte ihn und machte ihren Arm von ihm los. Als sie schließlich einen leeren Flur erreicht hatten, blieb Draco stehen und drehte sich zu ihr um. Um seine Lippen lag ein überlegenes Lächeln. „Ich habe einen Brief bekommen.", verkündete er langsam. Wortlos hob sie eine Augenbraue. „Von deinem Vater. Er hat erfahren, dass du in Gryffindor gelandet bist und ist – wie zu erwarten – alles andere als begeistert."
Jocelyn spürte, dass sie blass wurde. Sie dachte wieder an seine Warnung, bevor sie nach Hogwarts gegangen war, und unterdrückte ein Zittern. Draco genoss ihr Unbehagen sichtlich. „Er will, dass du in den Ferien mit mir nach Hause kommst." Jocelyn wusste genau, was sie erwartete. Ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Draco feixte und merkte vergnügt an: „Könnte ungemütlich werden, oder?" Zu ihrem Entsetzen begannen Jocelyns Augen zu brennen. Sie blinzelte hastig und schubste Draco beiseite. Aufgewühlt stürmte sie an ihm vorbei den Flur hinunter und achtete dabei nicht auf seine Stimme, die ihr hinterherrief, dass er sie ja gleich gewarnt hatte.

Mit zitternden Fingern nestelte Jocelyn an ihrem Mantel und beobachtete, wie der Zug in den Bahnhof einfuhr. Sie schluckte, immer wieder, aber das trockene Gefühl in ihrem Hals wollte einfach nicht verschwinden. Schließlich öffneten sich die Zugtüren und Jocelyn stieg hinter ihrem Bruder und Malfoy aus dem Hogwarts-Express. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie die hochgewachsene Gestalt Lucius Malfoy' wahrnahm. Er begrüßte seinen Sohn mit einem flüchtigen Schulterklopfen, nickte Lorcan zu und ignorierte sie vollkommen. Schweigend liefen sie den Bahnsteig hinunter und verließen den Bahnhof. Draußen legte Lucius eine Hand auf Lorcans Schulter und umfasste dann Dracos Arm. Dieser nahm mit hochmütiger Miene Jocelyns Hand und einen Moment später verschwamm die Umgebung um sie herum. Nach zehn endlosen Sekunden hörte das schwindelerregende Gefühl endlich wieder auf und sie öffnete ihre Augen. Vor ihnen ragte Malfoy Manor in die Höhe. Jocelyn war übel und sie war sich sicher, dass dies nicht nur vom Disapparieren kam. Erst nach einigen Augenblicken merkte sie, dass ihre Hand noch immer in Dracos lag. Hastig riss sie sie zurück, was ihm ein spöttisches Lächeln entlockte. Ohne sich noch einmal nach ihr umzuschauen, folgte er seinem Vater und Lorcan ins Haus. Mit schweren Schritten tat Jocelyn es ihm gleich, obwohl sie am liebsten weggelaufen wäre. Als sie den Flur betreten hatte, hörte sie Stimmen aus dem Salon kommen und folgte ihnen langsam und voller Widerwillen. Abrupt verstummten die Stimmen. Jocelyn zuckte zusammen, als sie den eisigen Blicken ihrer Eltern begegnete. „Jocelyn.", sagte Isidor täuschend sanft und erhob sich. Er trat auf sie zu und Jocelyn wich automatisch zurück. „Du hast unserer Familie eine unsagbar große Schande bereitet." Im nächsten Moment hob er seinen Zauberstab – Jocelyn hatte nicht gemerkt, dass er ihn in seiner Hand gehalten hatte – und schrie wutentbrannt: „Crucio!"
Eine endlose Sekunde verspürte Jocelyn gar nichts, aber dann traf sie der Schmerz mit aller Wucht. Ein gellender Schrei entwich ihr, ein Laut tiefsten Peines, und sie sank auf die Knie. Sie krümmte sich und schlang ihre Arme um ihren Körper, wollte sich irgendwie von dem Schmerz schützen, aber sie war ihm hilflos ausgeliefert. Schließlich ließ er nach und sie schaffte es, die Augen aufzuschlagen. Vor ihr stand Isidor. Voller Verachtung blickte er auf sie herab. „Gryffindor! Dafür wirst du büßen!", fauchte er. „Crucio!" Und dann setzte der Schmerz von neuem ein. Er schien alles in ihr zu verbrennen, machte es ihr unmöglich, etwas anderes zu tun, als zu schreien. Irgendwann – Minuten, Stunden oder Tage? – später senkte Isidor den Zauberstab. Molana trat neben ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Ihr Blick war genauso verächtlich, wie der ihres Mannes. Jocelyn lag zusammengekauert auf dem Boden, ihre Wangen waren tränenüberströmt und sie schmeckte Blut. „Du bist nicht mehr unsere Tochter.", Isidor spuckte verächtlich aus und verließ den Raum ohne einen Blick zurück. Molana schaute sie kalt und ohne jegliches Mitgefühl an und folgte ihm. Die plötzliche Stille ließ Jocelyns Ohren klingeln. Mühsam und unter unvorstellbaren Schmerzen richtete sie sich auf. Sie begegnete Dracos Blick, der wie versteinert in der Raumecke stand. Sein Gesicht war kreidebleich und sein Blick hatte nun gar nichts Hämisches mehr. Jocelyn wandte sich ab und lief mit heftig zitternden Knien aus dem Raum. Die Treppe hoch. Den Flur hinunter zu der Tür des kleinsten Zimmers der Malfoy Manor, in dem sie auch letztes Mal gelebt hatte. Sie öffnete sie und trat hinein. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, sank sie kraftlos zu Boden. Sie rollte sich zu einer Kugel zusammen und schloss die Augen. Sie fiel in einen tiefen Schlaf....
Ein kleines Mädchen mit dunkelroten Locken hüpfte eine lange Wendeltreppe hinunter. Ihre Mutter hatte ihr gesagt, dass sie spielen gehen sollte, aber dem Mädchen war schon nach kurzer Zeit langweilig geworden. Alleine machte das doch keinen Spaß! Viel eher wollte sie ihre Mutter finden und sie dazu bringen, mit ihr gemeinsam zu spielen. Das Wohnzimmer fand sie leer vor, ebenso die Küche. „Mama?", rief das Mädchen. Sie lief auf die Tür des Salons zu, die komischerweise verschlossen war und reckte sich, um an den Türgriff zu kommen. „Mama?", sie stieß die Tür auf und verharrte im nächsten Moment erschrocken. An dem langen Tisch saßen lauter dunkel gekleidete Personen, die sie nun alle anstarrten. „Jocelyn!", Molana stand auf, ihr Gesicht war finster. „Ich habe dir doch gesagt, dass du in deinem Zimmer bleiben sollst!" Hohngelächter erklang. Am lautesten und gemeinsten lachte eine Hexe mit dunklen, verfilzten Locken und einem irren Blick. Versteinert vor Schock wollte das kleine Mädchen zurückweichen, aber da erklang eine zischende Stimme. „Komm zu mir, kleine Jocelyn." Wieder spöttisches Gelächter. Hände griffen nach dem Mädchen und schoben sie in Richtung der Stimme. Sie gehörte der furchterregendsten Person, die das Mädchen jemals gesehen hatte. Seine Gestalt war groß und dürr und in einen dunklen Umhang gehüllt, sein Gesicht bleich und schlangenähnlich und seine Nase bestand nur aus schlitzförmigen Nüstern. Aber am aller schlimmsten war die blutrot glühenden Augen. „Mama!", weinte sie voller Angst. „Du brauchst doch keine Angst haben. Brauch sie Angst haben?", wendete er sich mit diabolischem Grinsen an die anderen dunkelgekleideten Gestalten. Wieder erklang von überallher Gelächter und zu dem Entsetzen des kleinen Mädchens lachten ihre Mutter und ihr Vater mit. „Mama", rief sie nochmal, aber dieses Mal so kläglich, dass es niemand hörte. „Was hast du denn da?", der schlangenähnliche Mann streckte die Hand nach der Lieblingspuppe des Mädchens aus, die sie, seit sie sie letztes Jahr von ihrer Tante zum Geburtstag bekommen hatte, überall und immer bei sich trug. Sie presste sie an ihre Brust und wich vor den langen, weißen Fingern des Mannes zurück. „Na, komm schon, kleine Jocelyn. Du brauchst keine Angst zu haben...."
„Jocelyn? Jocelyn!"
Jocelyn fuhr nach Luft schnappend hoch. Als sie in der Dunkelheit des Zimmers jemand neben sich knien sah, entfuhr ihr ein erschrockener Schrei. „Pst!", machte die Person. „Ich bin's nur, hör auf zu schreien!" „Draco?"
Sie kauerte vor ihm am Boden, auf ihren Wangen glitzerten Tränen und ihre hellblauen Augen waren vor Schmerz getrübt. In Draco tauchte ein Gefühl auf, das er nicht richtig zuordnen konnte, weil er es noch nie zuvor gefühlt hatte. Es brachte ihn dazu, ihr seine Hand hinzustrecken. Sie blickte ihn einige Sekunden lang voller Misstrauen an, aber schließlich ergriff sie sie. Draco zog sie hoch und sie stolperte unbeholfen gegen seine Brust. „Ich hasse ihn!", brach es plötzlich erstickt aus ihr hervor. Unsicher hob Draco die Hand und strich ihr durch die dunkelroten Locken. Er fühlte sich seltsam hilflos. Er half ihr zum Bett und sie ließ sich kraftlos darauf nieder. „Ich kann...vielleicht etwas gegen die Schmerzen machen, wenn du willst.", sagte Draco etwas hölzern. Jocelyn konnte nicht anders, als ihn prüfend anzuschauen. Sie rechnete damit, dass er jeden Moment loslachen und sie verspotten würde, weil sie wirklich geglaubt hatte, dass er ihr helfen wollte. Schließlich knöpfte sie sich mit linkischen Fingern den Mantel auf und streifte ihn sich von den Schultern. Immer noch wachsam rutschte sie auf dem Bett ein Stück zur Seite und ließ Draco neben sich setzen. Sie spürte seine angenehm kühlen Finger in ihrem Nacken. Er strich ihr Haar und den Kragen ihrer weißen Bluse zur Seite und musste schlucken, als er die roten Striemen auf ihrer makellosen, weißen Haut sah. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Isidor sie mit dem Cruciatus-Fluch foltern würde und war vor Schreck wie versteinert gewesen. Ihre Schreie hatten ihn bis ins Mark erschüttert. Sie am Boden liegen zu sehen – das stolze Mädchen, das sich sonst von nichts unterkriegen ließ und ihm im letzten Sommer schon öfters mit herausfordernd funkelnden Augen Paroli geboten hatte – hatte etwas Unerträgliches an sich gehabt. Er hob seinen Zauberstab und murmelte einen Spruch, der Wunden schloss. Als er fertig war, drehte sie sich zu ihm um. „Danke.", murmelte sie kraftlos und senkte dann die Lider. In ihren Wimpern hingen immer noch Tränen. Draco nickte knapp und stand auf. Er ging zur Tür und blieb unsicher davor stehen. „Kommst du klar?", presste er hervor. Es war komisch; er wusste nicht, wie er mit ihr umgehen sollte, wenn sie so verletzlich war. „Ja.", erwiderte sie, aber ihre Stimme brach. Er zögerte noch einige Augenblicke, bevor er schließlich ihr Zimmer verließ.


Burning DarknessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt