Wiedergutmachung

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Der flackernde Schein des Feuers, das sich knisternd und schmatzend durch das Holz im Kamin fraß, spiegelte sich in der glatten, glänzenden Oberfläche des langen Tisches wieder. Ringsherum bildeten die Todesser eine schwarze, undurchdringliche Mauer des Schweigens. Das einzige Geräusch neben dem Knistern des Feuers war ein unmenschliches, schauderhaftes Zischen, das aus dem Mund der großen, blassen Gestalt am Tischende kam. Jocelyn hob den Kopf, von einer grauenhaften Vorahnung erfasst.
„Hab Geduld, Nagini."   
Die Worte auf Parsel hallten in Jocelyns Ohren wider und ließen sie klingen. Sie spürte, wie ihr ein kalter Schweißtropfen den Nacken hinunter rann und im Kragen ihres schwarzen Umhangs versickerte. Jocelyn hob den Kopf noch ein Stückchen weiter an, soweit, bis sie hinauf schauen konnte zu dem leblosen Körper, der nur durch Zauberkraft über ihren Köpfen in der Luft gehalten wurde. Er drehte sich langsam um sich selbst und das Grauen drohte Jocelyn zu übermächtigen. Sie krallte sich mit den Fingern an der kalten Oberfläche des Tisches fest, während sie den Kopf nicht von der sich lautlos drehenden Gestalt über ihr abwenden konnte. Dracos Gesicht war leichenblass, noch blasser, als es sonst schon war, und seine Augen, seine wunderschönen, grauen Augen, waren vor Angst weit geöffnet. Es wirkte fast, als könnte er Jocelyn gar nicht richtig sehen, denn sein Blick glitt über sie hinweg.
„Nun, hat noch irgendjemand etwas zu sagen?", Voldemorts zischelnde, kalte Stimme ließ Jocelyn zusammenzucken.
Sie öffnete den Mund, halb um zu schreien und halb um Voldemort anzuflehen, Draco zu verschonen, ihn am Leben zu lassen und stattdessen lieber sie zu nehmen. Doch eine rasche Bewegung von einem der Todesser auf der anderen Tischseite ließ sie innehalten. Sie starrte die schwarz gekleidete Gestalt an, die nun langsam ihre Kapuze herunterzog. Ihr Blick traf auf kalt schauende, grüne Augen hinter einer Brille.
„Nur zu.", erklang wieder Voldemort grausame Stimme, nun mit einer höhnischen Belustigung darin.
„Sectumsempra!", Harrys Zauberstab peitschte durch die Luft und Jocelyn schrie auf, als Dracos Körper mit einem dumpfen Knall auf dem glänzenden Tisch aufkam. Auf der Vorderseite des weißen Hemdes, das er trug, breitete sich ein immer größer werdender Blutfleck aus, wie eine Blume, die langsam aufging.
Mit einem gierigen Zischen glitt Nagini von Voldemorts Schultern auf den Tisch und mit wiegenden, lautlosen Bewegungen kroch sie auf Draco zu.
„NEEEEEIN-"
Jocelyn riss die Augen auf. Mit einem Ruck setzte sie sich in ihrem Stuhl auf. Sie wusste nicht, ob sie laut geschrien hatte, aber da Madam Pomfrey noch nicht panisch herbei gewuselt gekommen war, nahm sie an, dass wohl kein Ton ihre Lippen verlassen hatte. Ihr Herz klopfte wie verrückt in ihrer Brust und ihr Blick huschte fast schon panisch zu Draco, doch der schlief ruhig und fest in seinem Bett. Jocelyn atmete stockend durch und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sie war den Tränen nahe, während sie versuchte, ihren panischen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen.
Es war mitten in der Nacht. Der Himmel draußen vor den Fenstern war schwarz. Nachdem Madam Pomfrey Jocelyn nach Ende der Besuchszeit aus dem Krankensaal herausgeschmissen hatte, war Jocelyn so lange im Gemeinschaftsraum der Slytherin geblieben, bis alle in ihre Schlafsäle gegangen waren, was viel zu lange gedauert hatte. Immer wieder war sie darauf angesprochen worden, was passiert war und einmal war sie kurz davor gewesen, Montague zu verhexen, der sich nicht einmal Mühe gegeben hatte, seine Schadenfreude zu verbergen.
Als sie schließlich endlich allein im Gemeinschaftsraum gewesen war, hatte Jocelyn sich unbemerkt noch einmal herausschleichen können und war ungeduldig wieder hinauf in den Krankensaal gehetzt, wo sie sich lautlos neben Dracos Bett auf einen Stuhl sinken lassen hatte.
Dort hatte sie gesessen, bis es tiefste Nacht geworden war und sie irgendwann wohl auf dem Stuhl eingeschlafen sein musste.
Jocelyn ließ ihre Hände sinken und blinzelte, während ihr Blick wieder zu dem schlafenden Slytherin glitt. Ihr Herzschlag hatte sich wieder beruhigt, doch noch immer verfolgte sie der Traum. Ein schreckliches Gefühl drückte auf ihre Magengrube, es war dasselbe Gefühl, dass sie schon den ganzen Tag begleitete, seit dem grauenhaften Ende der Zaubertränke-Stunde.
Sie fühlte sich verantwortlich für das, was heute passiert war. Auch wenn sie es nicht gewesen war, die Draco den Fluch aufgehalst hatte, so fühlte sie dennoch drückende Schuld in sich wüten.
Jocelyn stand leise von ihrem Stuhl auf und ging näher zu dem Bett, in dem Draco lag. Um seinen bloßen Oberkörper war ein Verband gewickelt. Sein Kopf lag von ihr abgewandt auf dem Kopfkissen und seine Hände ruhte auf seiner verbundenen Brust.
Jocelyn streckte die Hand aus und ihre Fingerspitzen berührten vorsichtig Dracos rechte Hand, an deren Zeigefinger ein schlichter Goldring steckte. Jocelyn dachte traurig, dass sie ihn noch nie gefragt hatte, von wo er diesen hatte. Wieder musste sie daran denken, was sich in den letzten Wochen für eine Kluft zwischen ihnen aufgetan hatte und erneut kam ihr der Gedanke, dass es alles ihre Schuld war.
Jocelyn spürte auf einmal, dass Dracos Finger unter ihrer Berührung zuckten und sie zog hastig ihre Hand weg.
„Was machst du hier?", murmelte Draco mit tiefer, vom Schlaf heiserer Stimme, die Augen immer noch geschlossen und den Kopf von ihr abgewandt.
Jocelyn biss sich fest auf die Unterlippe, während sie flüsterte: „Nach dir sehen."
Langsam ging sie einige Schritte rückwärts und setzte sich wieder auf den Stuhl. Die Bettdecke raschelte, als Draco sich nun doch umdrehte und die Augen öffnete, um sie anzusehen. Sie waren vom Schlaf ganz verhangen und seine sonst blassen Wangen leuchteten rot. Jocelyn fragte sich besorgt, ob er fieberte.
Jocelyn hätte ihn gerne gefragt, wie es ihm geht, doch sie musste daran denken, wie abweisend er vorhin gewesen war. Nachdem Snape und sie ihn in den Krankensaal geschafft hatten, war Madam Pomfrey leise vor sich hin schimpfend um ihn herum gewuselt und hatte sich um seine Wunden gekümmert. Nachdem sie diese anschließend noch dick mit Diptameingeschmiert und einen Verband darum gelegt hatte, war Draco von ihr in eines der Betten verfrachtet worden. Die Tatsache, dass Draco überhaupt nicht protestiert hatte, ließ Jocelyn befürchten, dass es ihm wohl wirklich schlecht ging. Sobald Madam Pomfrey verschwunden gewesen war, hatte Jocelyn sich neben Dracos Bett gesetzt, doch er hatte den Kopf von ihr weg gedreht und so getan, als würde er schlafen, obwohl sie genau gesehen hatte, dass es in ihm arbeitete. Sie hatte gesehen, wie sich seine Hände auf der Decke immer wieder angespannt hatten und das Schweigen, das in der Luft gehangen hatte, war so dick gewesen, dass Jocelyn es nicht gewagt hatte, es zu brechen.
Draco versuchte nun, sich aufzurichten und ein leises Stöhnen glitt über seine Lippen. Jocelyn sprang auf, um ihm zu helfen, doch ein Blick auf sein Gesicht ließ sie langsam wieder zurück auf ihren Stuhl sinken.
„Wie spät ist es denn?", fragte Draco gedämpft, während sein Blick zu den Fenstern huschte.
„Keine Ahnung, es ist mitten in der Nacht.", murmelte Jocelyn, während sie ihn unsicher ansah. Sie konnte seine Stimmung nicht recht einschätzen. Sie wusste nicht, ob er wütend auf sie war, denn aus seinem Gesicht war nichts abzulesen.
„Du solltest besser zurück in den Schlafsaal."
Jocelyn schluckte, als sie hörte, wie steif seine Stimme klang. Da war nichts von der Wärme zu hören, die sie sonst mit sich trug, wenn er mit ihr sprach.
Draco hatte es nun geschafft, sich soweit aufzurichten, dass er seinen Rücken gegen das Kopfteil des Bettes lehnen konnte.
„Nein, sollte ich nicht.", sagte Jocelyn und merkte dabei selbst, wie trotzig sie klang.
Draco hob eine Augenbraue und sah dabei so Draco-typisch aus, dass sich Jocelyns Herz zusammenzog.
Panik überfiel sie, als ihr wieder einmal bewusst wurde, wie sehr sie ihn liebte. Sie durfte ihn um keinen Preis verlieren, nicht auch noch ihn.
Jocelyn stand von ihrem Stuhl auf und kam zu Draco herüber. Als sie sich zu ihm auf das Bett setzte, verschloss sich sein Gesicht wieder, wurde zu der ausdruckslosen Maske, die sie so hasste. Sie hätte besser damit umgehen können, wenn sie seine Wut direkt angesprungen hätte, alles war besser, als diese scheinbare Gleichgültigkeit in seinem Blick.
„Du hattest recht. Mit allem. Ich werde nie wieder auch nur ein Wort mit Potter reden. Ich hasse ihn für das, was er dir angetan hat.", die Worte sprudelten aus ihr hervor, bevor sie sich zurückhalten konnte.
Draco wandte abrupt den Blick von ihr ab und drehte den Kopf zur Seite.
„Bitte, Draco, es tut mir leid."
Jocelyn erschrak darüber, wie verzweifelt sie klang, doch alles, woran sie denken konnte, war die Tatsache, dass sie das wieder geradebiegen musste.
Sie streifte sich die Schuhe ab, hob seine Bettdecke an und rutschte neben ihn auf die Matratze. Sachte, um ihm nicht noch mehr Schmerzen zu bereiten, lehnte sie ihre Schulter an seine und tastete mit den Fingern nach seinen. Sie fühlte sich heiß in ihren kalten an und wieder fürchtete sie, dass er fiebern könnte. Er zog seine Hand nicht weg und schmiss sie auch nicht wieder aus dem Bett, doch sein Körper war angespannt und immer noch spürte sie seine abwehrende Haltung.
„Was muss ich tun, damit du mir glaubst? Ich würde alles tun, was du verlangst.", flüsterte Jocelyn mit wachsender Verzweiflung und drehte den Kopf, bis ihre Lippen seine nackte Schulter berührten. Auch hier brannte seine Haut.
Draco drehte den Kopf und sie spürte, wie sein Kinn ihr Haaransatz berührte.
„Alles?"
Der merkwürdige Unterton in seiner Stimme ließ sie den Kopf heben. Sie blickte ihm in die grauen Augen, die einen seltsamen Glanz hatten und nickte.
„Alles."
„Das ist etwas, was man nicht zu einem Malfoy sagen sollte, Fortescue.", murmelte er, während er sie fixierte mit seinem Blick. Sie erwiderte ihn, froh, dass er zumindest wieder mit ihr redete. Sie rutschte noch näher zu ihm und doch war es noch nicht nahe genug. Die Angst, die sie heute um ihn gehabt hatte, ließ sie verzweifelt nach seiner Nähe dursten.
„Ich gehe das Risiko ein.", wisperte sie.
Draco ließ sie nicht aus den Augen. Sie fühlte ein nervöses Kribbeln in ihrer Magengegend. Es war faszinierend, was er in ihr auslösen konnte mit einem einzigen Blick.
Sie spürte, dass es ihm gefiel, dass er endlich mal wieder die Oberhand hatte. Sie spürte, wie sehr er genau das brauchte. Sie hatte nur eine leise Ahnung von der Wut, die in ihm brodeln musste, nachdem was heute geschehen war. Sie war nur zu gerne bereit, einen Teil davon abzufangen, wenn sie so vielleicht ihre Schuldgefühle los bekommen würde.
„Komm her.", seine Worte waren fast tonlos.
Sie befolgte seinen Befehl und rutschte noch näher zu ihm.
„Näher", befahl er.
Jocelyn hob die Bettdecke weiter an und kletterte vorsichtig auf seinen Schoß, da sie ihm nicht wehtun wollte. Dracos Hände glitten über ihre Schenkel, hinauf zu ihren Hüften. Er strich über ihren Rücken und wickelte sich ihren langen, roten Zopf um das Handgelenk. Sachte zog er daran und Jocelyn Kopfhaut kribbelte. Sie erinnerte sich daran, dass er verletzt war, doch das konnte ihren Körper nicht davon abhalten, auf seine Berührungen zu reagieren, darauf zu reagieren, wie nah sie ihm war. Ein Seufzen glitt über ihre Lippen, doch unvermittelt wurde Dracos Griff um ihre Haare fester.
„Du hast gesagt, du machst alles?", presste Draco hervor und Jocelyn riss ihre Augen auf, die sie geschlossen hatte. Ihr Blick traf erneut auf seinen harten, glühenden und sie musste schlucken.
Die Wut über das Geschehene schien sich nun langsam ihren Weg aus Draco heraus zu kämpfen.
„Ja.", sagte Jocelyn leise.
„Schön.", Draco senkte den Kopf und sie spürte seinen hastigen, heißen Atem auf ihrer Haut. „Du hast mich zutiefst gedemütigt, Jocelyn." Er zog an ihren Haaren, dieses Mal fester, und Jocelyns Augen begannen zu tränen, aber das war okay, da sie seine Wut nachvollziehen konnte.
„Es tut mir leid.", murmelte sie.
„Das sollte es.", sagte Draco, doch sein Griff wurde etwas lockerer. Er wollte ihr nicht wehtun, selbst in seiner Wut nicht. Jocelyn legte ihre Hand auf seine, mit der er ihre Haare umklammert hielt und drückte sie.
„Ich mach es wieder gut."
„Ich möchte niemals wieder Gerüchte hören müssen über dich und Potter. Du hast mich bloßgestellt!", Draco biss fest die Zähne zusammen und erneut blitzte Wut in seinen Augen auf.
„Keines davon ist wahr gewesen.", murmelte Jocelyn.
„Das spielt keine Rolle. Allein die Tatsache, dass es sie gegeben hat, reicht mir.", presste Draco hervor.
Er ließ ihre Haare los und umfasste stattdessen ihr Kinn.
„Ich möchte von dir, dass du es Potter zurückzahlst.", wisperte er und wieder traf sie sein warmer Atem, so nah war er ihr. Sein Mund schwebte dicht vor ihrem und als sie sprach, berührten sich ihre Lippen fast.
„Zurückzahlen?"
„Ja. Demütige ihn, wie du mich gedemütigt hast. Bereite diesen Gerüchten ein für alle Mal ein Ende. Es ist mir egal, wie du es anstellst, doch sorge dafür, dass es öffentlich passiert."
Als Draco nun lächelte, sah Jocelyn in seinen höhnisch blickenden Augen den Schatten jenes Dracos aufblitzen, der er gewesen war, als sie das erste Mal zu den Malfoys gekommen war. Ein Slytherin, wie er im Buche stand. Manchmal vergaß sie, dass dieser Draco und ihr Draco ein und dieselbe Person waren.
Jocelyn zögerte mit ihrer Antwort und Draco packte ihr Kinn fester. Je länger sie schwieg, desto finsterer wurde sein Blick.
„Gut.", sagte Jocelyn schließlich. „Von mir aus. Er hat es verdient."
Einen Moment lang fixierte er sie noch mit seinem Blick, doch anscheinend stellte ihn der Ausdruck in ihren Augen zufrieden. Er ließ ihr Kinn los und lehnte den Kopf wieder gegen das Kopfteil des Bettes.
„Du solltest dich jetzt ausruhen.", murmelte Jocelyn nach ein paar Augenblicken Schweigen. Sie lehnte sich auf seinem Schoß nach vorne und streckte ihre Hand aus, um sie auf seine Stirn zu legen.
„Du glühst, Draco.", stellte sie erschrocken fest. „Vielleicht solltest du Madam Pomfrey rufen."
Draco schien ihr nicht richtig zuzuhören. Seine Augen betrachteten sie immer noch, doch in ihnen lag keine Wut mehr. Jocelyn schluckte, als sie seine Erregung registrierte, die ihr durch seine Wut erst jetzt auffiel. Es war so still im Krankensaal, dass ihr beider Atem das einzige Geräusch war. Jocelyn war froh, dass sich gerade kein anderer Schüler im Krankenflügel aufhielt. Es war unwahrscheinlich, dass dieser nicht aufgewacht wäre durch ihr aufgebrachtes Streitgespräch.
Dracos Atem ging immer noch hastig und Jocelyn wusste, dass sie vernünftig sein und sich von ihm lösen sollte, da er ganz offensichtlich fieberte. Doch ihr Körper hatte anderes im Sinn. Bevor sie überhaupt darüber nachgedacht hatte, beugte Jocelyn sich nach vorne und presste ihren Mund auf Dracos. Seine Lippen waren kühl, im starken Gegensatz zum Rest seines Körpers. Seine Hände glitten an ihren Hinterkopf und hungrig küssten sie sich. Sie spürte, wie ihr verkrampftes Inneres sich langsam entspannte, das erste Mal heute, seit der Fluch ihn getroffen hatte. Erneut kamen Bilder von dem Traum vorhin in ihr hoch und sie küsste Draco nur noch gieriger. Niemals mehr würde sie riskieren, dass Draco verletzt wurde.

Burning DarknessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt