Im Nachhinein hätte Jocelyn nicht mehr sagen können, wie sie es geschafft hatte, die Sache vor Draco geheim zu halten, aber Tatsache war, dass sie es irgendwie fertig brachte. Als sie zurück in ihren Gemeinschaftsraum gekommen war, wo Draco in einem der Sessel vor dem Kamin auf sie wartete, hatte sie für einige Augenblicke gegen das heftige Verlangen angekämpft, ihm alles anzuvertrauen. Es war eine kleine, vorsichtige Stimme in ihr, die ihr riet, besser Dumbledores Bitte nachzukommen und Draco nichts zu sagen. Sie sah schließlich selbst ein, wie gefährlich es für Lorcan werden könnte, wenn jemand die Wahrheit erfahren würde. Aber dennoch konnte sie nichts gegen das Gefühl von Schuld machen, dass sie überkam, kaum dass sie den Entschluss gefasst hatte, zu schweigen. Bedeutete dies, dass sie Draco nicht ausreichend vertraute? Oder lag es daran, dass sie ihm anderenfalls auch von ihrem festen Vorhaben erzählen müsste, mit Lorcan mitzugehen, wenn er sie zum vereinbarten Zeitpunkt abholen kommen würde? Wobei sie immer noch nicht wusste, wie ihr Bruder es schaffen wollte, unbemerkt an den Auroren vorbeizukommen und gleichzeitig die Schutzzauber von Hogwarts zu durchbrechen. Dennoch glaubte sie zu wissen, dass Lorcan einen Weg in die Schule finden würde.
Doch der vereinbarte Zeitpunkt kam und ging, ohne dass sie ihren Bruder zu Gesicht bekam. Die Sorge um ihn zermürbte sie zusehends. Sie war in einem Zwiespalt gefangen; einerseits wünschte sie sich, dass er endlich auftauchen würde, aber andererseits hatte sie furchtbare Angst vor dem Moment, in dem es wirklich so weit wäre, Draco Lebewohl zu sagen. Inzwischen konnte sie ihm auch nichts mehr vormachen, was ihren Gemütszustand betraf. Er hätte blind sein müssen, um nicht zu bemerken, von was für einer Unruhe sie erfüllt war. Er bemerkte es, aber wie es nun mal seine Art war, verzichtete er darauf, sie nach dem Grund für ihre Anspannung zu fragen. Er glaubte, dass sie es ihm sagen würde, wenn sie dazu bereit wäre. Ohne es zu wollen, zog sie sich immer mehr von ihm zurück, während die Tage ohne ein Lebenszeichen von ihrem Bruder dahinzogen. Schließlich, und ohne dass Jocelyn es bemerkt hatte, waren die Ferien zu Ende und das Schloss füllte sich nach und nach wieder mit Schülern, die über das Flohnetzwerk zurück nach Hogwarts reisten. Das Ministerium hatte diese einmalige Verbindung zum Flohnetzwerk eingerichtet, um Schüler schnell und sicher in die Schule zurück zu befördern. Jocelyn war fast froh darüber, dass der Unterricht wieder beginnen würde, denn die Stille im Schloss hatte etwas Zermürbendes an sich gehabt. Pansy, die anscheinend einen eingebauten Peilsender hatte, der Spannungen zwischen Draco und Jocelyn sofort registrierte, nahm den blondhaarigen Slytherin direkt in Beschlag, kaum dass sie wieder in Hogwarts war. Nicht mal den Ärger darüber konnte Jocelyn aus ihrer Lethargie reißen. Sie spielte mit dem Gedanken, zu Dumbledore zu gehen und ihn zu fragen, ob er etwas von ihrem Bruder wusste, irgendetwas, aber dann kamen ihr wieder seine Worte in den Sinn. Dumbledore war nicht länger ein Vertrauter; er war ein Feind geworden.
Jocelyn starrte abwesend ins Feuer. Sie war im Slytherin- Gemeinschaftsraum und saß auf einem der hohen Lehnstühle, die um den Kamin herum in einem Halbkreis angeordnet waren. Die Sonne hing bereits tief über dem Schlossgelände, das immer noch von einer dicken Schneedecke bedeckt war. Sie hatte die Beine an die Brust gezogen und die Arme darum geschlungen, während sie stumm und reglos einige Gesprächsfetzen der anderen Slytherins aufschnappte, die von ihren Ferien berichteten. Eigentlich hatte sie noch Hausaufgaben zu erledigen, einen Aufsatz für Snape und eine Zusammenfassung von einigen Buchseiten für McGonagall, aber sie konnte sich nicht dazu aufraffen.
Ein Fehler, denn Snape würde sich es sicher nicht nehmen lassen, ihr dafür Nachsitzen aufzubrummen. Snape...Ruckartig richtete Jocelyn sich in ihrem Stuhl auf, als ihr plötzlich etwas einfiel. Snape war ein Todesser, nicht? Er nahm nach wie vor an den Versammlungen teil und müsste deshalb bestens über die neuesten Geschehnisse informiert sein. Auch darüber, was mit ihrem Bruder los war...Bevor sie es überhaupt bemerkte, war sie aufgesprungen. Sie sah, dass Draco ihr abrupt das Gesicht zuwandte, aber sie achtete nicht weiter darauf und stürmte zum Ausgang des Gemeinschaftsraumes. Sie musste sich beeilen, damit sie Snape noch erwischte, bevor er zum Abendessen in die Große Halle hinaufgehen würde. Sie stürmte den von grünlichen Lampen beleuchteten Gang hinunter und machte sich auf den Weg zu dem Büro ihres Hauslehrers. Als sie es außer Atem erreichte, klopfte sie zweimal gegen die Tür. Snape ließ sich Zeit damit, die Tür zu öffnen, und sie spürte, wie sie immer ungeduldiger wurde. Schließlich wurde die Tür endlich aufgerissen und ein übel gelaunter Snape schnauzte: „Was gibt es?"
„Kann ich Sie kurz sprechen, Sir?", fragte Jocelyn und knetete unruhig ihre Hände.
„Na, jetzt sind Sie ja sowieso schon da.", knurrte Snape und trat beiseite, um sie einzulassen. Nervös ließ sie sich auf den Stuhl vor Snapes Schreibtisch sinken und wartete, bis ihr Hauslehrer auch saß, bevor sie zu sprechen begann.
„Sir, können Sie mir vielleicht sagen, wie es meinem Bruder geht?", sprudelte sie hervor.
Snape warf ihr einen scharfen Blick zu und erwiderte: „Wieso fragen Sie, Miss Fortescue?"
Jocelyn zögerte, sie konnte Snape ja kaum erzählen, was Dumbledore ihr gesagt hatte. Also begnügte sie sich mit einem vorsichtigen: „Ich mache mir Sorgen um ihn, weil ich schon länger nichts mehr von ihm gehört habe."
„Ihm geht es den Umständen entsprechend gut, nehme ich an.", antwortete Snape knapp.
„Den Umständen entsprechend?"
„Ich kann Ihnen nicht mehr sagen.", sagte Snape barsch.
Jocelyn schluckte nervös. Also gab es mehr zu erzählen?
„Professor, bitte, ich werde bald wahnsinnig vor Sorge. Sagen Sie es mir."
„Damit Sie gleich wieder eine Dummheit begehen? Nein, es ist besser für Sie, es nicht zu wissen."
„Was nicht zu wissen?", Jocelyn rutschte in ihrem Stuhl ganz nach vorne und versuchte einen Molana- Blick, der hoffentlich genauso böse aussah, wie sie hoffte.
„Schluss jetzt.", schnarrte Snape unfreundlich und erhob sich abrupt wieder von seinem Stuhl, um mit ein paar wenigen Schritten den Raum zu durchmessen und die Tür aufzureißen.
„Guten Abend."
Jocelyn verharrte einige Augenblicke schweigend, während sie fieberhaft überlegte, wie sie es aus Snape herausbekommen könnte, aber schließlich stand sie auf und stürmte wutschnaubend an ihm vorbei durch die Tür. Idiot! Gemeine, hinterhältige Schlange!
Sie fluchte inbrünstig vor sich hin auf ihrem Weg zurück zum Gemeinschaftsraum und spürte währenddessen, dass sich die Sorge in ihr zu einer dumpfen Panik gesteigert hatte.
Als sie durch die Öffnung schlüpfte, sah sie, dass die meisten der Slytherins schon hinauf in die Große Halle gegangen waren, also machte sie kehrt und ging ebenfalls nach oben.
Als sie durch die Flügeltüren der Großen Halle trat, war sie für einen Moment wie erschlagen von dem Stimmengewirr und den vielen Leute. Sie hatte sich in den letzten Tagen anscheinend schon ziemlich daran gewöhnt gehabt, das Schloss fast für sich zu haben. Sie schüttelte kurz den Kopf und ging dann durch die Halle zum Slytherin- Tisch. Ihr Blick glitt automatisch zu den Gryffindors und sie fing Harrys Blick auf. Einen Moment betrachtete sie den schwarzhaarigen Jungen nachdenklich. Nach allem, was sie von Dumbledore erfahren hatte, war er der einzige, der außer ihr von den Hokruxen wusste. Ob Dumbledore Harry wohl auch von Lorcan erzählt hatte? Sie wandte den Blick ab und hatte im selben Moment den Slytherin- Tisch erreicht, wo sie feststellen musste, dass Pansy bereits den Platz neben Draco eingenommen hatte. Mit einem finsteren Blick musste sie sich wohl oder übel neben das pausbackige Slytherin- Mädchen in die Bankreihe schieben. Pansy sah auf, als sie sich neben sie auf die Bank fallen ließ und ein falsches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.
„Na, Fortescue, schöne Ferien gehabt?", fragte sie spöttisch.
„Ach, sei doch still.", entgegnete Jocelyn schärfer als beabsichtigt. Sie ärgerte sich immer noch über Snape.
„Wo bist du so plötzlich hin geradeeben? Hast du dich mit jemandem getroffen?", wollte Pansy mit einem hinterhältigen Lächeln wissen, während sie so tat, als ob sie Jocelyn nicht gehört hätte. Auffällig unauffällig linste sie hinüber zum Gryffindor- Tisch und Jocelyn sah, dass Draco von seinem Teller aufblickte.
Sie stöhnte genervt auf. „Tut mir leid, deine Hoffnungen zerstören zu müssen, Parkinson, aber ich war bei Snape."
Pansy schnaubte. „Ja, klar, Fortescue."
Jocelyn wandte sich demonstrativ von ihr ab und begann zu essen.
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Burning Darkness
Fanfiction„Vertraust du mir?" Jocelyn drehte den Kopf, um Draco anzuschauen und ein aufgeregtes Zittern überkam sie, als sie erfolglos versuchte, den unbekannten Ausdruck auf seinem Gesicht zu entziffern. „Ja", flüsterte sie schließlich. Er verzog den Mund...