Hass und Schuldgefühle

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Lorcan rannte über den schneebedeckten Rasen in Richtung der Eingangstore Hogwarts und hörte Rufe hinter sich. Die Auroren, die das Eingangstor bewachten, wandten sich um, als er näher kam und hoben ihre Zauberstäbe, aber Lorcan schickte blitzschnell Schockzauber in ihre Richtung, von denen zwei tatsächlich trafen. Er stürmte durch das Tor und apparierte dann sofort, wobei er überhaupt nicht wusste, wo er wieder auftauchen würde, da seine Gedanken ein einziges Chaos waren. Das unangenehme Gefühl von Enge befiel ihn und die Luft um ihn herum wurde knapp. Schließlich wich der Druck wieder und er öffnete die Augen. Er stand vor dem Trümmerhaufen, der ehemals das Zuhause von ihm und seiner Schwester gewesen war. Stumm starrte er auf die verkohlten Überreste des Hauses und merkte, wie ihm erneut die Luft knapp wurde. Er hatte es getan. Er hatte Jocelyn getötet. So öfters schon hatte er es sich vorgestellt, besonders wenn sie mit ihrer oftmals nervtötenden Art wieder einmal versucht hatte, durch die Mauern zu gelangen, die er sich über die Jahre hinweg aufgebaut hatte, aber trotzdem traf ihn jetzt, wo ihm klar wurde, dass sie nie wieder zurückkommen würde, ein stechender Schmerz. Er keuchte auf und krümmte sich zusammen. Er hatte sie getötet. Er hatte seine Schwester getötet.
Als ob sein eigenes Gehirn ihn foltern wollen würde, rauschten nun in einer rasend schnellen Geschwindigkeit Bilder durch seinen Kopf.
Jocelyn, zwei Jahre alt, wie sie in ihrem Kinderbett gelegen hatte, das kleine blasse Gesichtchen friedlich und sorglos...
Jocelyn, die ihm schon von Anfang an eine vorbehaltlose und durch und durch reine Liebe entgegengebracht hatte...
Wie ihre kleine Fingerchen in jener Nacht, als ihre Eltern nach Askaban kamen, nach seinen gegriffen hatten, ängstlich, vertrauensvoll...
Sie hatte ihn die ganze Nacht nicht mehr losgelassen, möge er auch noch so gemeine Dinge zu ihr gesagt haben...
In der ersten Zeit bei Fiona hatte sie jede Nacht darauf bestanden, in seinem Zimmer zu schlafen, seine Beleidigungen und Gemeinheiten waren an ihr abgeprallt, sie hatte ihm unbeirrt Liebe und Vertrauen entgegengebracht...
Sein Herz zog sich zusammen, als er sich erinnerte, wie gemein er zu ihr gewesen war.
Später dann, als sie größer wurde, lernte sie, ihre Gefühle ebenso zu verschließen, wie er es immer getan hatte.
Aber dennoch war sie immer die Weichere und Verletzlichere von ihnen beiden gewesen.
Sie hatte nie völlig verbergen können, dass sie ihn trotz allem immer noch liebte.
Aber er hatte ihr kein einziges Mal gesagt, dass sie ihm entgegen ihrer Erwartung auch nicht egal gewesen war.
Und jetzt war sie weg.
Für immer.
Lorcan merkte, dass sein Atem schnell und abgehakt ging. Er richtete sich auf und stapfte durch den Schnee auf die Trümmer zu. Wie im Wahn suchte er den Boden ab, schiffte mit den Fingern den Schnee beiseite, bis diese ganz steif vor Kälte wurden. Irgendwann fand er schließlich etwas, dass ihn in der Bewegung innehalten ließ. Ein kleines, verkohltes Amulett, das ehemals golden gewesen war und Fiona gehört hatte. Mit linkischen Fingern öffnete Lorcan den Verschluss und sein Atem entwich mit einem schmerzerfüllten Zischen. Dort drin war, von den Flammen vollkommen verschont worden, das Bild, das Fiona von Jocelyn an ihrem zehnten Geburtstag aufgenommen hatte. Mit pinken Spängchen im Haar, die sich furchtbar mit dem Rot bissen, strahlte Jocelyn in die Kamera und winkte fröhlich. Neben ihr waren die schlaksigen Armen und Beine eines Jungens zu erahnen. Seine schlaksigen Arme und Beine.
Erneut krümmte er sich zusammen und würgte, aber da er schon seit Tagen nichts mehr gegessen hatte, kam nichts als Galle hoch.
Zitternd richtete er sich auf, das Amulett in seiner Faust verborgen, und wandte den Trümmern den Rücken zu. Er wusste, was er zu tun hatte, aber er fühlte sich, als wäre ein Teil von ihm zerbrochen.
Der Schnee wirbelte kaum merklich auf, als er mit einer raschen Drehung verschwand. Noch während er sich wieder auf dem Boden niederlegte, erschien Lorcan am Fuß eines Hügels, 200 km entfernt, wieder. Mit hölzernen Schritten machte er sich an den Aufstieg.

„Was machst du denn da vor dem offenen Fenster, Liebes? Bei der Kälte holst du dir noch den Tod!"
Jocelyn wandte sich um und sah mit trüben Augen zu der rundlichen Frau, die sich als Madam Pomfrey vorgestellt hatte. Offenbar befand sie sich in Hogwarts, der Schule für Hexerei und Zauberei, und hatte einen Unfall gehabt. Sie hatte zwar verstanden, was sie ihr erzählt hatten, aber trotzdem hinterließen ihre Worte nichts als Leere in ihr. Während Madam Pomfrey sie nun wieder zum Bett zurückführte und schaudernd das Fenster schloss, dachte Jocelyn an den kurzen Moment vorhin, in dem sie zumindest irgendetwas gefühlt hatte, das einer Art Erinnerung nahekam. Als sie aus ihrem Umhang geschlüpft war, um sich auf Madam Pomfreys Befehl hin bettfertig zu machen, war sie auf einen merkwürdigen Gegenstand in einer der Taschen gestoßen. Und obwohl sie keinen Namen dafür fand, wusste sie instinktiv, was sie damit tun konnte. Madam Pomfrey war zusammengeschreckt, als sie den seltsamen Stab gehoben hatte, aber Jocelyn hatte ihn lediglich auf die Gaslampe gerichtet und „Lumos" gemurmelt, woraufhin die Lampe aufgeleuchtet war. Einige Zeit lang hatte sie dies in hoffnungsvolle Stimmung versetzt, aber schließlich hatte sie wieder die Verzweiflung gepackt. In ihrem Kopf herrschte gähnende Leere, sie wusste zwar inzwischen, wie sie aussah und hieß, aber nichts an ihr kam ihr bekannt vor. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wer sie war.
Madam Pomfrey deckte sie zu und Jocelyn merkte erst jetzt, wie durchgefroren und müde sie eigentlich war. Dankbar ließ sie zu, dass sie in einen tiefen Schlaf fiel, der die zermürbenden Gedanken in ihrem Kopf auslöschte.
Das nächste, was sie mitbekam, war eine geflüsterte Diskussion zwischen Madam Pomfrey und der Frau, die Professor McGonagall hieß.
„Es wäre das einzig Richtige, Poppy!", beschwor sie Madam Pomfrey gerade.
Jocelyn öffnete vorsichtig die Augen und sah, dass die beiden Erwachsenen mit dem Rücken zu ihr standen, weshalb sie sich gefahrlos in ihrem Bett aufrichten konnte, ohne dass sie es mitbekamen.
„Nein! Ich glaube fest daran, dass ihr die vertraute Umgebung helfen wird, ihre Erinnerungen zurückzubekommen, Minevra."
„Aber das Mädchen ist doch vollkommen verwirrt! Im St. Mungo's wäre sie zumindest in sicheren Händen und da wären Leute, die sich mit solchen Dingen auskennen."
„Dann hältst du mich also für unwissend, Minevra?", fragte Madam Pomfrey und klang dabei etwas pikiert.
„Keinesfalls!", beteuerte McGonagall eilig. „Ich versuche nur herauszufinden, was das Beste für das Mädchen ist. Ich verstehe deinen Standpunkt durchaus, Poppy, aber dennoch glaube ich, dass sie im St. Mungo's besser aufgehoben wäre."
„Hier sind Leute, die ihr etwas bedeuten, sie wäre nicht auf sich allein gestellt. Und was sie jetzt am dringendsten braucht, ist Normalität."
McGonagall seufzte und schien sich geschlagen zu geben. „Ich werde das mit dem Schulleiter bereden."
Sie ging hinaus und Jocelyn fragte: „Was ist das St. Mungo's?"
Madam Pomfrey zuckte überrascht zusammen und wandte sich zu ihr um. „Ah, du bist wach! Wie fühlst du dich?", sie kam zu ihr herüber geeilt und legte ihr eine Hand auf die Stirn.
„Unverändert.", murmelte Jocelyn. „Was ist das nun?"
„Das St. Mungo's ist ein Zaubererkrankenhaus.", erwiderte Madam Pomfrey und werkelte geschäftig mit einigen Tränken herum.
„Muss ich da hin?"
Der Gedanke löste ein Gefühl von Widerwillen in ihr aus, obwohl sie nicht sicher wusste wieso.
„Nein, Liebes, ich bin mir fast sicher, dass du hier bleiben kannst."
Madam Pomfrey eilte davon und kam wenig später mit einer dampfenden Tasse Tee zurück, in der sie einige Tropfen von einer streng riechenden Flüssigkeit reintat, die sich in einer der Tränkeampullen befand, und reichte sie ihr. Jocelyn trank einige Schlucke und verzog das Gesicht. „Ich weiß, ich weiß, es schmeckt scheußlich, aber dafür hilft es, also trinke aus!", sagte Madam Pomfrey.
Gehorsam leerte sie die Tasse und schüttelte sich dann angeekelt. Madam Pomfrey nahm ihr die Tasse ab und ging erneut heraus. Wenig später kam sie mit einer Suppe zurück, die Jocelyn ohne großen Appetit auslöffelte.
„Nur noch zwei Stunden, dann ist der Unterricht vorbei. Sicher werden deine Freunde dich dann besuchen kommen!", sagte Madam Pomfrey fröhlich. Sie schien sie aufheitern zu wollen, aber ihre Worte erfüllten Jocelyn eher mit Panik. Sie erinnerte sich nur noch zu gut an den geschockten, ja, verletzten Ausdruck in den hellgrauen Augen des weißblonden Jungens, der sie anscheinend gefunden und hierhergebracht hatte, als ihm klar wurde, dass sie sich nicht mehr an ihn erinnern konnte. Dabei wollte sie es doch so sehr! Irgendetwas sagte ihr nämlich, dass er eine zentrale Rolle in ihrem Leben gespielt hatte.
Madam Pomfrey hatte anscheinend ihre aufsteigende Panik bemerkt, da sie beruhigend ihre Hand tätschelte. „Ich bin sicher, dass sie Verständnis haben werden."
Ohne Vorwarnung schossen Jocelyn Tränen in die Augen. Die ganze Situation schien sie auf einmal zu überwältigen. Es machte sie verrückt, sich so unwissend zu fühlen!
Madam Pomfrey zog sich taktvoll zurück, bis sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte.
Die Zeit verstrich, es wurde Mittag und Jocelyn bemerkte, dass sie tatsächlich etwas enttäuscht war, als der Weißblonde gegen Nachmittag immer noch nicht aufgetaucht war.
Sie hatte gehofft, von ihm einige Antworten zu bekommen, die ihr helfen würden, etwas Licht ins Dunkle zu bringen.

Burning DarknessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt