Erinnerungen

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Jocelyn und Draco schafften es nicht mehr pünktlich zu der Doppelstunde Zaubertränke, die direkt nach der Mittagspause angesetzt war. Als sie verspätet in Slughorns Klassenzimmer platzen, glühten Jocelyns Wangen immer noch und sie musste sich alle Mühe geben, angemessen schuldbewusst auszusehen, da sie am liebsten wie verrückt gegrinst hätte. Ihr Inneres platzte fast vor Glück. Sie rutschte mit Draco auf eine der hinteren Sitzbänke und hörte kaum, was Slughorn sagte, während sie unter dem Tisch nach Dracos Hand suchte. Sie konnte es immer noch nicht glauben. Sie waren nun tatsächlich verlobt. In Jocelyns Magengegend kribbelte es und es fiel ihr wahnsinnig schwer, ruhig sitzen zu bleiben. Sie warf einen Blick zu dem blondhaarigen Slytherin herüber, ihrem Verlobten, und sah, dass er sie ebenfalls anblickte. Obwohl er äußerlich unberührt wie immer wirkte, erkannte Jocelyn in seinen grauen Augen dieselbe Aufregung, die auch sie empfand.
Es war schon merkwürdig: Um sie herum nahm alles seinen gewöhnlichen Lauf, Slughorn schrieb die Aufgabe für diese Stunde an die Tafel und die Schüler nahmen sich die Zutaten aus den Vorratsschränken, bevor sie sich über ihren Kessel beugten, doch für Jocelyn hatte sich alles geändert. Sie wünschte fast, es laut herausschreien zu können, doch sie bezweifelte, dass sich auch nur irgendjemand für sie freuen würde.
Der Gedanke stimmte sie kurz etwas betrübt. Manchmal vergaß sie, dass sie außer Draco kaum jemand in Hogwarts hatte, dem etwas an ihr lag. Unwillkürlich glitten Jocelyns Gedanken zu ihrem Bruder. Es war inzwischen schon eine gefühlte Ewigkeit her, dass sie ihn zuletzt gesehen hatte. Sie fragte sich, wie er auf die Neuigkeiten reagieren würde. Sie musste an die Worte denken, die er ihr das letzte Mal so abfällig an den Kopf geworfen hatte.
Ich bin gespannt, wann Malfoy sich deiner überdrüssig wird und dich durch eine andere ersetzt.
Doch das war nicht der Lorcan, an den sie sich erinnern wollte. Vielmehr wollte sie das Bild jenes Lorcan bewahren, der sie vor Dolohow gerettet hatte oder der sie voller Erleichterung angeblickt hatte, als ihm klar geworden war, dass sie entgegen seiner festen Überzeugung noch lebte.
Während Jocelyn zum Vorratsschrank lief und blindlings Zutaten herausnahm, spann sie ihre Überlegungen weiter. Was würde wohl Dracos Mutter sagen, wenn dieser ihr erzählte, dass er sie heiraten wollte? Obwohl sie sich nie so abfällig über Jocelyn geäußert hatte wie Lucius Malfoy, hatte Jocelyn dennoch die Befürchtung, dass sie nicht wirklich glücklich darüber sein würde.
Jocelyn war so in ihre Gedanken vertieft, dass ihr erst zum Ende der Doppelstunde hin die bösen Blicke auffielen, welche die Gryffindors die ganze Zeit in ihre Richtung schickten. Als sie aufblickte, traf ihr Blick auf Rons, der sie finster anfunkelte. Unwillkürlich glitten Jocelyns Augen weiter zu Harry, doch dieser sah sie nicht an, sondern war scheinbar vollends auf seinen Kessel konzentriert. Ohne dass sie es beeinflussen konnte, kamen drückende Schuldgefühle und Bedauern in Jocelyn hoch. Sie hatte nie gewollt, dass es so endet.
Das Ende der Stunde kam überraschend schnell und Jocelyn erntete einen tadelnden Blick von Slughorn, als er feststellte, dass sie noch gar nicht fertig war mit ihrem Trank. Jocelyn nahm es gleichgültig hin. Es beängstigte sie etwas, wie unwichtig ihr all das inzwischen geworden war. Erfolgreich in der Schule sein, einen guten Schulabschluss schaffen- all das erschien ihr geradezu lächerlich nebensächlich in Anbetracht der Sache, dass Draco und sie auf der Todesliste von Voldemort und seinen Anhängern standen.
Es wunderte Jocelyn manchmal selbst, wie gut sie diese Tatsache verdrängen konnte. Hier, innerhalb der Schlossmauern, schien ihr das sehr weit weg zu sein, aber das war töricht. Die Gefahr war nur zu real.
Als schließlich endlich alle Schulstunden für den heutigen Tag vorbei waren, wollte Jocelyn sich gerade zum Gemeinschaftsraum aufmachen, als Draco ihre Hand nahm und sie in die andere Richtung mitzog, in Richtung der großen Flügeltüren, die hinaus auf das Schlossgelände führten.
Überrascht folgte Jocelyn ihm.
„Wohin gehen wir?", fragte sie mit einem Seitenblick auf den Slytherin.
„Ich will mit dir allein sein.", antwortete Draco und schulterte seine Schultasche, während er blinzelnd in die Sonne blickte, die sie traf, sobald sie das Gebäude verließen.
Jocelyn seufzte. Sie hatte das vermisst, das warme Gefühl der Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Sie malte sanfte Kreise auf Dracos Handrücken und er drückte ihre Hand. Jocelyn sammelte all das, diese kurzen Momente des unbeschwerten Glücks, die Wärme der Sonne, das Gefühl von ihrer Hand in Dracos und speicherte alles sorgfältig in ihrem Gedächtnis ab. Ein kleiner Teil von ihr ahnte, dass sie diese Erinnerungen schon bald brauchen würde, um sich am Leben zu halten.
Überall auf dem Schlossgelände verteilt genossen Schüler schwatzend und lachend die ersten Sonnenstrahlen seit gefühlten Ewigkeiten. Draco zog Jocelyn mit sich und an den anderen Schülern vorbei. Es war merkwürdig, wie melancholisch Jocelyn sich gerade fühlte, während sie all das in sich aufnahm, die Geräusche, das Lachen, das sanfte Rauschen des Windes und Dracos Anblick, wie er neben ihr herlief, die Augen leicht zusammengekniffen zum Schutz gegen die Sonne, und sich nach einem ruhigen Platz für sie umsah.
Sie liefen durch die Bäume, die den See säumten, und schließlich hatten sie die anderen soweit hinter sich zurückgelassen, dass ihre Stimmen nur noch in der Ferne ganz leise zu hören waren. Draco ließ sich vor einem der Bäume auf das Gras sinken und zog Jocelyn mit sich. Er lehnte sich mit dem Rücken an den Baumstamm und winkelte die Beine an. Jocelyn rutschte dazwischen und sank gegen seine Brust. Er schlang die Arme um sie und eine Weile saßen sie so schweigend.
Nicht bloß Jocelyn schien gerade in einer merkwürdigen Stimmung zu sein, sie registrierte, dass auch Draco sich anders verhielt als sonst. Seine Umarmung war so fest, als ob er befürchten würde, dass sie ihm entrissen werden könnte.
Jocelyn malte erneut Kreise auf Dracos Handrücken.
„Es ist nicht mehr lange.", murmelte sie irgendwann.
„Ich weiß.", antwortete Draco leise. Er wusste genau, was sie meinte. Das Ende des Schuljahrs, das unaufhaltsam näher rückte.
„Wohin werden wir gehen?"
Sie hörte Draco leise seufzen und drehte sich leicht in seiner Umarmung, um ihn ansehen zu können. Den Kopf gegen den Baumstamm gelehnt, blickte er nachdenklich hinaus auf den See.
„Zu meiner Mutter."
„Wann hast du zuletzt etwas von ihr gehört?"
„Ich habe nichts mehr von ihr gehört seit ihrer letzten Nachricht.", antwortete Draco und Jocelyn sah, wie sein Kiefer arbeitete.
„Ich habe versucht, Snape dazu zu überreden, mich zu ihr zu bringen, aber er weigert sich."
Die Wut war ihm deutlich anzusehen. Jocelyn kam wieder in den Sinn, wie sie ihn in letzter Zeit immer wieder mit Snape auf dem Flur streiten gesehen hatte. Insgeheim war sie ihrem Hauslehrer dankbar dafür, dass er Draco den Wunsch nicht erfüllt hatte. Allein der Gedanke, dass Draco dort draußen war, machte ihr eine furchtbare Angst. Doch sie war so klug, nichts davon zu Draco zu sagen. Sie wusste, das hätte seine Wut nur noch mehr geschürt.
„Sie ist sicher. Das ist alles, was zählt.", sagte sie stattdessen, während sie sich wieder nach vorne wandte und den Kopf an Dracos Brust lehnte.
Eine Weile herrschte wieder Stille zwischen ihnen, bevor Jocelyn schließlich vorsichtig fragte: „Denkst du oft an deinen Vater?"
Sie wusste, dass sie sich auf dünnem Eis bewegte. Obwohl sie es immer mal wieder versucht hatte, weigerte sich Draco größtenteils, über den Tod seines Vaters zu sprechen. Doch sie hatte das Gefühl, nein, sie war sich absolut sicher, dass ihn das Ganze nach wie vor quälte. Natürlich, wie könnte es das nicht?
Tatsächlich spürte sie nun, wie Dracos Körper sich anspannte. Sie sorgte dafür, dass sie nicht aufhörte, sanfte Kreise auf seine Haut zu malen und als er nicht sofort antwortete, drängte sie ihn nicht.
„Weißt du, was das Schlimmste ist?", als er schließlich sprach, war seine Stimme kaum hörbar.
Jocelyn öffnete den Mund, aber offenbar verlangte er auf diese Frage keine Antwort, da er bereits weitersprach: „Ich habe manchmal geglaubt...dass es so einfacher wäre. Ohne ihn. Doch jetzt, wo er tatsächlich fort ist..."
Die Worte trafen Jocelyn mitten in das Herz, die Qual in Dracos Stimme.
Sie hatte schon öfters darüber nachgedacht, wie es für Draco wohl hatte sein müssen, mit einem Vater wie Lucius Malfoy aufzuwachsen. Er sprach nie viel über seine Kindheit, aber sie glaubte zu wissen, dass er es alles andere als leicht mit seinem Vater gehabt hatte.
„Ich habe öfters das Gefühl gehabt, dass er mich für zu schwach hält. Dass alles, was ich gemacht habe, nicht gut genug gewesen ist, dass es nicht seinen Erwartungen entsprochen hat. Er hat jede Form von Schwäche verabscheut. Als Kleinkind habe ich furchtbare Angst vor der Dunkelheit mit all ihren undurchdringlichen Schatten gehabt. Und unser Haus ist nachts voller Schatten gewesen. Manchmal, wenn ich aufgewacht bin und es in meinem Zimmer stockdunkel gewesen ist, habe ich angefangen zu weinen. Mein Vater hat es einmal gehört und ist in mein Zimmer gestürmt. Er hat das Licht angeknipst und mich angebrüllt, dass ich gefälligst still sein soll. Er hat es gehasst, wenn ich geweint habe. Meine Mutter ist dazu gekommen und hat mich in den Arm genommen, doch mein Vater hat sie von mir weggezogen, während er verlangt hat, dass ich ihm sage, weshalb ich geweint habe. Als ich geantwortet habe, dass ich mich vor den Schatten fürchte, hat er angefangen zu lachen. Er hat mich am Arm gepackt und mich aus dem Zimmer gezogen. Meine Mutter ist uns hinterher gelaufen, doch obwohl sie es versucht hat, ließ er sich nicht erweichen. Er hat mich vor die Haustür in die vollkommene Dunkelheit geschleift und gemeint: „Die Dunkelheit ist nichts, wovor man sich fürchten muss." Er hat die Tür hinter sich geschlossen und obwohl ich wie verrückt gegen die Tür gehämmert habe, hat er sie nicht wieder geöffnet. Die ganze Nacht nicht."
Die Wörter waren nur so aus ihm herausgeströmt. Während er gesprochen hatte, war sein Griff um sie immer stärker geworden. Doch Jocelyn hatte sich nicht getraut sich zu rühren, aus Angst davor, dass er wieder verstummen würde.
„Draco...", fing sie an, doch erneut unterbrach er sie. Nun, wo er einmal angefangen hatte, zu erzählen, schien er nicht mehr aufhören zu können.
„Als ich neun Jahre alt geworden bin, hat er beschlossen, dass es Zeit für mich wurde, fliegen zu lernen. Ich lernte es sehr schleppend. Bereits am zweiten Tag hat er langsam die Geduld verloren. Seine Wut hat mich so nervös gemacht, dass ich mich nur noch unbeholfener angestellt habe. Obwohl ich es schließlich am dritten Tag endlich geschafft habe, den Garten mit dem Besen zu umrunden, ist es ihm immer noch nicht genug gewesen. Er hat beschlossen, mir etwas Anreiz zu geben, es schneller zu lernen. Er hat sehr kreativ sein können. Er hat mich mit dem Zauberstab ins Visier genommen und wann immer ich nicht schnell genug gewesen bin, traf mich ein Fluch von ihm. Am Ende der Woche haben sich meine Flugfähigkeiten rapide gebessert gehabt, aber seine Freude darüber hat nur so lange angehalten, bis ihm während meines ersten Jahrs auf Hogwarts zugetragen worden ist, dass es Potter in die Quidditch-Mannschaft seines Hauses geschafft hat und ich nicht. Er hat sich also darum gekümmert, dass auch ich in die Quidditch-Mannschaft komme und mich daraufhin noch härter trainiert. Aber wie du siehst, hat es offenbar nie ausgereicht, um Potter zu besiegen. Das ist ihm gehörig gegen den Strich gegangen, genauso wie die Tatsache, dass ein Schlammblut bessere Noten erzielt als ich. Von Jahr zu Jahr ist sein Ärger gewachsen und ich habe mich jedes Mal davor gefürchtet, in den Ferien nach Hause zu gehen. Ich glaube, er hat bereits die Hoffnung aufgegeben, dass ich ihn jemals stolz machen werde, doch als der Dunkle Lord ihm...mir....die Ehre erweisen wollte, mich zu einem seiner Todesser zu machen, habe ich die Möglichkeit gesehen, mir endlich den Stolz meines Vater zu verdienen. Doch wie du weißt, habe ich ihn stattdessen nur wieder enttäuscht."
Die Bitterkeit in Dracos Stimme war schlimmer als alles andere. Es war beängstigend, wie sehr er selbst überzeugt davon war, seinen Vater enttäuscht zu haben.
Jocelyn wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Das ist nicht deine Schuld, Draco.", sagte sie schließlich. „Es ist nicht deine Schuld, dass dein Vater die falschen Vorstellungen davon hatte, wie sein Sohn sein soll."
Es gab nun alles noch viel mehr Sinn. Dracos Hass auf Harry, seine Abneigung gegen Hermine. Es musste grauenhaft gewesen sein, ständig mit anderen verglichen zu werden und das Gefühl zu haben, nie gut genug zu sein.
Draco antwortete nicht.
„Du solltest dich nicht schuldig fühlen, weil du darüber nachgedacht hast, wie es wäre...ohne ihn. Ohne den ständigen Druck, seine Erwartungen zu erfüllen. Das heißt nicht, dass du ihn nicht geliebt hast und dass du nicht um ihn trauerst. Es ist einfach nur menschlich."
Draco legte das Kinn auf ihre Schulter und obwohl er immer noch schwieg, konnte sie spüren, wie sich sein angespannter Körper etwas entspannte.
Jocelyn dachte an seine letzten Worte.
Doch als der Dunkle Lord mir die Ehre erweisen wollte, in seine Reihen einzusteigen, habe ich die Möglichkeit gesehen, mir endlich den Stolz von meinem Vater zu verdienen. Doch wie du weißt, habe ich ihn stattdessen nur wieder enttäuscht.
Er hatte ihn ihretwegen enttäuscht. Ihr wurde wieder einmal bewusst, was er für ein großes Opfer für sie gebracht hatte. Ihr Herz zog sich zusammen.
„Ich liebe dich.", flüsterte sie.
Draco zog sie noch enger an sich und seine Lippen berührten ihr Ohr.
„Ich liebe dich.", wisperte er.
Er nestelte an dem schlichten Goldring an seiner Hand und zog ihn ab.
„Bis ich etwas Besseres für dich kaufen kann.", murmelte er und griff nach ihrer Hand.
Er zog ihr den Ring über den Finger, doch er war viel zu weit. Draco griff hinter ihr nach seinem Zauberstab und richtete ihn auf den Ring.
„Nicht erschrecken.", meinte er und flüsterte etwas, woraufhin der Ring sich ihrem Finger anpasste und enger wurde.
Jocelyn hob ihre Hand und betrachtete sie. Sie mochte, was sie sah.
Draco gab ihr einen Kuss auf den Haaransatz.
„Was ist das für ein Ring?", fragte Jocelyn.
„Ein Geschenk meiner Mutter.", antwortete Draco. „Er steht dir."
„Wäre sie nicht böse, wenn sie wüsste, dass du ihn mir gegeben hast?"
„Mache dir darum keine Sorgen.", sagte Draco nur.
„Meinst du, sie wird sich freuen über unsere Verlobung?" Das Wort auszusprechen fühlte sich immer noch verrückt an.
„Sie will, dass ich glücklich bin."
Das war zwar keine Antwort auf ihre Frage, aber fürs Erste ließ Jocelyn es gut sein. Erneut hob sie ihre Hand und als die Sonne sich in dem Gold des Ringes brach, lächelte sie.

Burning DarknessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt