Abschied

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Die Zugfahrt am nächsten Tag erlebte Jocelyn wie durch dichten Nebel. Sie saß neben Draco in einem Abteil mit den anderen Slytherins und starrte hinaus, ohne wirklich etwas zu sehen. Draco redete mit ihr, aber keines seiner Worte wollte wirklich zu ihr durchdringen. Irgendwann ließ sie ihren Kopf auf seine Schulter sinken und tat so, als würde sie schlafen. Einerseits musste sie so wenigstens nicht reden und andererseits beruhigte seine Nähe ihre aufgewühlten Nerven etwas. Draco spannte sich einen Moment an, bevor er schließlich vorsichtig, beinahe zögerlich, einen Arm um sie legte. Die Stimmen der anderen, die höhnisch klangen, blendete sie aus, während sie sich so eng wie möglich an den weißblonden Slytherin schmiegte. Ohne dass sie es kommen gesehen hatte, war er zu ihrem Anker geworden. Ihre Augen brannten, als ihr klar wurde, dass er ihr dieses Mal auch nicht helfen konnte. Und sie ihm ebenfalls nicht...Wenn sie sich das nächste Mal wiedersehen würden, wäre er einer von ihnen. Ein Todesser. Der Gedanke löste ein schmerzliches Gefühl in ihr aus. Das war falsch, so schrecklich falsch. Der Zug ließ Hogwarts immer weiter zurück und mit jedem Kilometer wurde das drückende Gefühl in ihrem Herzen stärker. Sie konzentrierte sich mit aller Kraft auf Dracos Stimme, der sich leise mit Nott unterhielt. „Und was hast du so vor in den Ferien?", fragte Nott ihn gerade.
Jocelyn spürte Dracos plötzliche Anspannung. „Das Übliche.", antwortete er schließlich etwas steif.
„Ach, tatsächlich? Also ist es inzwischen schon vollkommen normal für dich, dass du mit der dadeine Ferien verbringst? Hat sie eigentlich kein eigenes Zuhause?", platzte es plötzlich mit vor Wut unterdrückter Stimme aus Pansy heraus. Jocelyn spürte, wie Draco leise lachte. „Weißt du, früher hast du immer mich mit nach Hause genommen! Aber ich bin dir wohl nicht mehr gut genug!", Pansys Stimme klang mittlerweile ganz erstickt vor unterdrückten Tränen. Draco hatte Pansy mit zu sich nach Hause genommen? Diese Vorstellung hatte einen bitteren Beigeschmack.
„Komm schon, hör auf zu schmollen, Pansy.", sagte Draco gelangweilt. Pansy atmete scharf ein. „Du bist so ein Idiot, Draco Malfoy!", rief sie mit vor Wut bebender Stimme aus. Die anderen Slytherins lachten und wenig später hörte Jocelyn die Abteiltür auf und zugehen. Es begann zu regnen und der Regen trommelte wie tausend kleine Kieselsteine auf das Zugdach. Im selben Moment sah sie durch ihre geschlossenen Lider hindurch einen Blitz aufflackern, dicht gefolgt von einem tiefen Donnergrollen. Sie spürte Dracos Herz ruhig und gleichmäßig unter ihren Fingerspitzen schlagen und irgendwann musste sie eingeschlafen sein, denn das nächste, was sie wahrnahm, war seine Stimme dicht an ihrem Ohr. „Wir sind da.", sagte er.
Augenblicklich schlug sie die Augen auf. Ihre Blicke verhakten sich für einige Sekunden und sie verspürte den Wunsch, ihm irgendetwas zu sagen, aber ihr Gehirn fand einfach nicht die richtigen Worte. Schließlich standen sie mit den anderen auf und zogen ihre Koffer von der Ablage. Sie suchten sich einen Weg durch die unzähligen Hogwarts-Schüler mit ihren Koffern und Eulenkäfigen, und traten hinaus auf den Bahnsteig. Ihr Herz schlug unnatürlich schnell. Sie versuchte, gegen den Imperius anzukämpfen und Draco zu folgen, aber ihre Beine trugen sie von ihm weg. Sein weißblonder Haarschopf verschwand immer mehr aus ihrem Blickfeld. Da wandte er sich plötzlich um und bemerkte, dass sie nicht mehr hinter ihm war. Sein Blick glitt über die vielen Leuten auf dem Bahnsteig und fand sie. Einen kurzen Moment lang sahen sie sich an – die Verwirrung stand ihm in das Gesicht geschrieben-, doch dann schob sich eine Großfamilie zwischen sie und sie verlor ihn aus den Augen. Sie suchte nach dem dunkelhäutigen, kahlköpfigen Mann, den Dumbledore in seinem Brief beschrieben hatte, aber ihre Sicht war verschwommen. Es dauerte, bis sie merkte, dass sie weinte. Warum nur kam ihr der Abschied von Draco so endgültig vor? Vielleicht weil sie wusste, dass sie beide nicht mehr dieselben sein würden, wenn sie sich wiedersehen würden?
„Miss Fortescue?", hörte sie plötzlich hinter sich eine ruhige, tiefe Stimme fragen. Sie wirbelte überrascht herum und sah sich der von Dumbledore beschriebenen Person gegenüber.
„Ja, die bin ich.", sagte sie mit belegter Stimme.
Der Mann streckte ihr die Hand hin: „Ich bin Kingsley Shacklebolt." Sie schüttelte seine Hand. Shacklebolt sah sich kurz um, bevor er sich wieder zu ihr wandte und mit gesenkter Stimme sagte: „Wir sollten besser gehen."
Sie fühlte sich wie betäubt, schaffte es aber trotzdem zu nicken. Er nahm ihr den Koffer ab und streckte ihr dann seinen Arm hin. Sie legte ihre Hand in seine Armbeuge und im nächsten Moment begann ihre Umgebung zu verschwimmen. Sie schloss hastig die Augen. Als Jocelyn sie wieder öffnete, standen sie in einer Straße, in der lauter düster und heruntergekommen wirkende Häuser standen. „Willkommen am Grimmauldplatz Nr. 12.", sagte Shacklebolt neben ihr.
„Grimmauldplatz Nr. 12?", wiederholte sie stirnrunzelnd. Sie standen vor Nummer elf und daneben war gleich Nummer dreizehn. Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, als plötzlich wie aus dem Nichts zwischen Nummer elf und Nummer dreizehn eine ramponierte Tür erschien, dicht gefolgt von schmutzigen Mauern und schmierigen Fenstern. Sie blinzelte ungläubig. Shacklebolt führte sie die abgenutzten Steinstufen hinauf und pochte einmal mit seinem Zauberstab gegen die Tür, die einen silbernen Türklopfer in Form einer gewundenen Schlange hatte. Die Tür entriegelte sich mit einem rasselnden Geräusch und schwang knarrend auf. Jocelyn trat in eine dunkle, modrig riechende Eingangshalle. Die Tür fiel hinter Shacklebolt ins Schloss und die Dunkelheit wurde vollkommen. Bevor sie in Panik ausbrechen konnte, hörte sie ein leises Zischen, dann entflammten altmodische Glaslaternen entlang den Wänden. Das Haus war noch heruntergekommener, als es von außen gewirkt hatte. Die Tapeten schälten sich ab, der Teppich war verschlissen und überall waren Spinnweben.
„Ist sie das?", Jocelyn sah auf, als ein Mann mit langen, dunklen Haaren die Treppe herunterkam und sie dabei neugierig musterte. Er kam ihr seltsam bekannt vor. „Die Todessertochter?"
„Sirius!", tadelte Shacklebolt ihn.
Der Dunkelhaarige stieß ein Lachen aus, das wie ein Bellen klang und sagte fröhlich: „Bleib locker, Kingsley."
„Also", wandte sich Shacklebolt an Jocelyn, „Ich gehe jetzt. Die anderen kommen heute Abend zum Essen. Richte dich bis dahin einfach ein bisschen ein, in Ordnung?"
Sie nickte und im nächsten Moment war sie alleine mit dem Mann, den Shacklebolt Sirius genannt hatte. „Komm, ich zeig' dir dein Zimmer.", sagte er fröhlich, nahm ihren Koffer und sprang leichtfüßig die Treppe hoch.
Sie folgte ihm zögerlich. Dabei fielen ihr die merkwürdigsten Dinge ins Auge: Der Schirmständer, der am Fuß der Treppe stand, sah aus, als wäre er aus einem abgetrennten Trollbein gefertigt worden, und als sie die dunkle Treppe emporstieg, kam sie an einer Reihe von Hauselfenköpfe vorbei, die auf Tafeln an der Wand befestigt waren. Schaudernd beschleunigte sie ihre Schritte. Sirius hatte schon den schäbigen Treppenabsatz überquert und steuerte nun auf die zweite Tür des düsteren Flures zu. Er drehte den Knauf, der wie ein Schlangenkopf geformt war und die Tür schwang mit einem unheilvollen Knarzen auf. Sie trat hinter Sirus in das hohe, düstere Zimmer und sofort drang der süßliche Geruch von Moder an ihre Nase.
„Nicht besonders einladend.", sagte Sirius beinahe entschuldigend.
Jocelyn nahm die spärliche Möblierung in Augenschein, die aus einem schmalen Einzelbett, einem winzigen Schreibtisch, vor dem ein niedriger Hocker stand, und einem dunklen Schrank bestand.
„Ich nehme an, du bist Besseres gewohnt, oder?", mit einem halben Lächeln wandte Sirius sich zu ihr um.
Einen Augenblick lang kamen ihr die hellen, glänzenden Räume von Malfoy Manor in Sinn. Sie zuckte nichtssagend mit den Schultern.
„Okay, dann lass ich dich mal in Ruhe auspacken.", sagte Sirius und ging zur Tür.
Sie blieb allein zurück und ließ sich erschöpft auf das Bett sinken. Sie vergrub das Gesicht in den Händen. Die nächsten Minuten war nichts zu hören außer dem stetigen Ticken der Uhr, die an der Wand ihres neuen Zimmers hang, und der Wind, der draußen durch die Bäume rauschte. Ihr Kopf pochte schmerzhaft. Mit erschreckender Klarheit wurde ihr bewusst, dass sie nicht hier sein wollte. Alles war so schrecklich schief gelaufen. Die einzige Person, bei der sie jetzt sein wollte, schien unerreichbar weit weg. Wie konnte es sein, dass sie ihn so sehr vermisste? Sie ließ sich auf die klamme Bettdecke sinken und schloss die Augen. Sie versuchte verzweifelt, einzuschlafen, um dem drückenden Gefühl in ihrem Herzen wenigstens für eine Zeit lang zu entkommen.

Burning DarknessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt