Der letzte Horkrux (1. Teil)

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Um Jocelyn herum tobte das Chaos. Schreie, das Zischen von Flüchen, Teile von Wänden und Decken, die zu Boden fielen wie laut tosender Regen. Es war alles so schnell gegangen. Noch bevor die Turmuhr Zwölf geschlagen hatte, war Hogwarts von maskierten Todessern angegriffen worden. Sie hatten sie alle nach und nach ins Innere des Schlosses zurückweichen lassen, wo nun ein erbitterter Kampf stattfand. Im ganzen Stockwerk wurden Zweikämpfe ausgefochten, ganz egal wo Jocelyn hinsah, überall waren maskierte Gestalten. Schüler rannten voller Panik kreuz und quer und manche schleppten verletzte Freunde hinter sich her.
Jocelyn wich flink einem Fluch des Todessers aus, gegen den sie kämpfte, während sie sich panisch nach Draco umsah. Schließlich fand sie ihn, er schlängelte sich mit eleganten Bewegungen zwischen den Kämpfenden hindurch zu ihr. Als er nah genug war, hob er blitzschnell den Zauberstab und schoss einen Fluch auf den Todesser ab, der Jocelyn attackierte. Er brach zusammen und Jocelyn, die sicher gehen wollte, dass er so bald nicht mehr aufstand, schleuderte ihm einen weiteren Fluch entgegen.
„Komm", Draco packte sie am Arm und zog sie mit sich. Sie stürzten zur Treppe, die ebenfalls voller sich duellierender Zauberer war, und Jocelyn klammerte sich mit aller Kraft an Dracos Hand fest.
Auf der Hälfte der Treppe kam ihnen ein Schwarm Schüler entgegen, mit schreckensverzerrten Gesichtern. „Riesen!", schrie eine blondhaarige Schülerin. Und tatsächlich, wenig später glaubte Jocelyn zu fühlen, wie ein Beben durch das Schloss ging. Kurz darauf erklangen im unteren Stockwerk gellende Schreie.
Sie verlangsamten ihre Schritte, der Weg wurde ihnen durch einen Todesser abgeschnitten, der ihnen rückwärts in den Weg stolperte, offenbar von einem Fluch getroffen. Er hob den Zauberstab und Jocelyn hörte sein Fluch zischend durch die Luft fliegen, bis er auf sein Ziel traf. Jocelyn keuchte auf, als ein schmächtiger Ravenclaw, dem sie ab und an mal auf dem Flur zwischen den Unterrichtsstunden begegnet war, über die Brüstung der Treppe geschleudert wurde und aus ihrem Sichtfeld verschwand.
Bevor der Todesser Gelegenheit hatte, sich zu ihnen umzudrehen, schleuderte Draco ihm einen Schockzauber entgegen, der ihn mit dem Gesicht auf die Treppenstufen fallen ließ. Jocelyn glaubte durch den Lärm hindurch das übelkeitserregende Geräusch einer brechenden Nase zu hören.
Draco und sie stürzten die Treppe hinunter und betraten das untere Stockwerk. Der Anblick, der sich ihnen dort unten bot, war derart fürchterlich, dass Jocelyn für einige Augenblicke schreckensstarr wurde. Wo sie auch hinsah, erblickte sie leblose Körper und Blut auf dem Boden. Sie hörte Schreie, lautes Weinen und Flüche erleuchteten das Ganze wie bunte Blitze. Und durch die geöffneten Flügeltüren drang gerade das Fürchterlichste, das Jocelyn je gesehen hatte - eine riesige Spinne mit unzähligen langen Beinen und klickenden Greifern.
Hinter ihr konnte Jocelyn etwas ausmachen und es brauchte einen Moment, bis ihr Verstand das Ganze verarbeitet hatte: Vor dem Schlossportal stand ein gigantischer Riese und dem ohrenbetäubenden Lärm im ersten Stock nach, versuchte er gerade,  seine gewaltige Faust durch ein Fenster zu stoßen. Jocelyn hörte das Klirren von Glas und wieder gellten laute Schreie durch die Luft. Das Gemäuer schien zu beben.
„Komm!", Draco zog sie mit sich und seine Finger krallten sich dabei so fest um ihr Handgelenk, dass es schmerzte. Sie rannten an einem maskierten Todesser vorbei, der sich gerade mit McGonagall duellierte, und wären dann beinahe über zwei Körper am Boden gestolpert. Während Draco sie hastig weiterziehen wollte, wurden Jocelyns Schritte unwillkürlich langsamer, während sie auf die beiden Gestalten am Boden starrte. Für einen kurzen, verrückten Moment lang, kamen sie ihr wie zwei Liebende vor, die sich in einer innigen Umarmung befanden. Dann hob der Mann den Kopf und Jocelyn konnte das Blut an seinem Mund sehen, das sein Kinn hinunter auf den leblosen Körper unter ihm tropfte. „NEEIN!", der Schrei entwich Jocelyn, ohne dass sie es registrierte. Sie hob den Zauberstab und schleuderte dem Werwolf einen Schockzauber entgegen. Beinahe im gleichen Moment traf ihn von links ebenfalls ein Fluch. Er brach bewusstlos zusammen und Jocelyn beugte sich herrunter, um seinen Körper von dem des leblosen Schülers zu ziehen. Jemand half ihr und erst dachte sie, es wäre Draco, doch als sie aufsah, begegnete sie Ginnys braunen Augen. Grimmig nickte sie ihr zu. Sie hatte den Werwolf wohl zeitgleich mit ihr geschockt.
„Los", Draco zog sie auf die Beine und Jocelyn ließ sich von ihm mitziehen.
Plötzlich hallte eine hohle, kalte Stimme durch das Schloss und sie blieben ruckartig stehen. Genau wie zuvor schien sie aus Decken und Wänden zu kommen.
„Ihr habt heldenhaft gekämpft", zischte Voldemort und einen Moment glaubte Jocelyn fast, dass er hinter ihr stand, so nah klang seine Stimme. Sie wirbelte erschrocken herum, doch natürlich war er nicht da, spielten ihr ihre Sinne nur einen Streich.
„Lord Voldemort ist gnädig. Ich befehle meinen Streitkräften, sich sofort zurückziehen. Ihr habt eine Stunde. Schafft eure Toten mit Würde weg, versorgt eure Verletzten. Harry Potter, ich spreche nun direkt zu dir. Du hast deine Freunde für dich sterben lassen, anstatt mir selbst gegenüber zu treten. Ich werde eine Stunde lang im Verbotenen Wald warten. Wenn du dich bis dahin nicht ergeben hast, beginnt die Schlacht von neuem. Dieses Mal werde ich selbst in den Kampf ziehen und ich werde dich finden. Ich werde jeden bestrafen, der versucht hat, dich vor mir zu verstecken."
Jocelyn fühlte sich, als wäre sie mit purem Eiswasser  überschüttet worden. Die gespenstische Stille, die nun folgte, klingelte ihr in den Ohren.

Die Große Halle war nicht wiederzuerkennen. Die Haustische waren verschwunden und die Verletzten wurden auf dem Podium von Madam Pomfrey und einigen Helfern verarztet. Die Toten lagen in einer Reihe in der Mitte der Halle. Niemand sprach, nur hier und da war mal ein unterdrücktes Schluchzen oder Geflüster zu hören. Jocelyn konnte den Blick nicht von den Weasleys abwenden, die sich um eine der leblosen Gestalten versammelt hatten. Es war einer der Zwillinge. Fred. Jocelyn sah das Leid auf ihren Gesichtern und merkte, wie ihr Hals immer enger wurde und ihre Augen zu brennen begannen. Mr. und insbesondere Mrs. Weasley waren immer gut zu ihr gewesen. Und auch wenn Fred ihr nichts als Verachtung entgegen gebracht hatte, so traf sie sein Tod dennoch. Sie trafen die stummen Tränen, die Ginny das blasse Gesicht hinunterliefen. Sie wirkte völlig verloren, wie sie da neben Ron stand, der mit geröteten Augen auf die leblose Gestalt seines Bruders starrte.
Abrupt wandte Jocelyn sich ab und verließ die Halle. Sie spürte, dass Draco ihr folgte. Sie ließ sich auf die Stufen der großen Treppe im Eingangsbereich sinken und kümmerte sich nicht darum, dass die Stufen mit Blut befleckt waren. Draco setzte sich neben sie und zog sie an sich. Sie sprachen kein Wort und Jocelyn glaubte zu wissen, was er dachte. Er fragte sich, ob seine Mutter noch lebte. Wenn man von so viel Tod und Leid umgeben war, wie sie gerade, dann wanderten die Gedanken wie von allein zu den Menschen, die einem am meisten bedeuten. Auch Jocelyn dachte an ihre Familie, die einzige, die ihr noch geblieben war - Lorcan.
Ihre Eltern hatte sie nicht gesehen im Schlachtgetümmel, aber vielleicht hatten sie unter den vielzähligen Masken gesteckt. Vielleicht hatte Voldemort sie auch schon in einem seiner wahnsinnigen Wutanfälle getötet. Es war egal. Sie verband nichts außer Hass und schmerzhafte Enttäuschung mit ihnen. Gut verborgen in ihrem Inneren fühlte Jocelyn den tiefsitzenden Schmerz darüber, dass ihre Eltern ihr seit Anfang an nichts als Gleichgültigkeit, ja, sogar Grausamkeit, entgegengebracht hatten, aber das war nicht der Zeitpunkt, um sich damit auseinanderzusetzen. Das war eine Wunde, die schon lange in ihr existierte und wohl nie gänzlich heilen würde.
Sie war sich fast sicher, dass Harry inzwischen alle Horkruxe zerstört hatte. Alle bis auf diesen einen letzten.
„Hey", Draco küsste sie sanft aufs Haar und sie drückte ihr Gesicht in seine Halsbeuge und presste die Augen fest zusammen, versuchte die Tränen mit Gewalt zu stoppen, aber es half nichts. Unablässig liefen sie ihr über die Wangen.

Burning DarknessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt