Jocelyn war völlig außer sich. Immer schneller waren ihre Schritte geworden, immer wütender pochte ihr Herz und immer verzweifelter wünschte sie sich, all den Schmerz, Lorcan, hinter sich lassen zu können. Sie hatte Mühe, frei zu atmen, denn da war ein Gewicht, ein überwältigendes Gewicht auf ihrer Brust, das sie in die Knie zwängen wollte. Immer tiefer hinunter. Doch da sie wusste, dass sie es dann nie mehr hinauf schaffen würde, kämpfte sie mit aller Kraft dagegen an. Plötzlich spürte sie auf ihrer Haut überdeutlich die Kette mit dem Zeitumkehrer, deren Glieder sich in ihr Fleisch zu bohren schienen. Jocelyn griff nach der kleinen Sanduhr und zog sich die Kette mit hastigen, zornigen Bewegungen vom Hals. Sie war inzwischen schon durch das Tor gerannt und nun auf dem schmalen Weg, der hinunter nach Hogsmeade führte. Keuchend blieb Jocelyn stehen, während sie mit brennenden Augen auf den Zeitumkehrer in ihrer Hand starrte. „Was sollte das?", schrie sie so unvermittelt, dass sie selbst erschrak. „Was hast du mir damit sagen wollen, Fiona?"
Sie hatte in den letzten Wochen so oft darüber nachgegrübelt. In besonders verzweifelten Momenten hatte sie gehofft, dass Fiona ihn ihr vermacht hatte, um Lorcan zu retten, doch da blieb immer wieder die Frage nach dem Wie. Zeitumkehrer wurden vom Zaubereiministerium strengstens unter Verschluss gehalten und das nicht ohne Grund. Kurz flackerte in Jocelyn der verrückte Gedanke auf, dass sie auf der Stelle zurück in der Zeit reisen und Lorcan retten könnte, aber dann erinnerte sie sich daran, was sie damit ändern würde. Voldemort wäre dann noch am Leben und wer weiß, was sie sonst noch auslösen könnte. „Arghhh", Jocelyn schrie wütend auf und pfefferte die Kette mit dem Zeitumkehrer auf den Asphalt. Der Anhänger, der einer Sanduhr glich, zersprang und gleichzeitig stieg ein wabernder, silbrig-durchsichtiger Dunst auf, nicht Nebel und nicht Feuchtigkeit, sondern irgendetwas dazwischen. Jocelyn erstarrte, während ihre Augen auf dem lagen, was da gerade vom Boden aufstieg. Eine Erinnerung. Der Gedanke schoss ihr so plötzlich in den Kopf, dass sie sich fragte, weshalb es so lang gedauert hatte, bis sie es erkannt hatte. Die Erinnerung hatte in dem Anhänger gesteckt, den sie fälschlicherweise für einen Zeitumkehrer gehalten hatte. Jocelyn sank auf die Knie und mit zittrigen Händen drängte sie die Erinnerung mit dem Zauberstab zurück in Richtung des zerbrochenen Anhängers, den sie mit einem geflüsterten „Reparo", wieder zusammenflickte. Danach kniete sie minutenlang am Boden und starrte die Kette mit dem Anhänger an. Sie dachte zurück an jenen Tag, als Dumbledore ihr sie überreicht hatte. Sie hörte ihre eigene Stimme fragen: „Sir, ist das ein Zeitumkehrer?", sah wieder, wie Dumbledore nur lächelte, anstatt auf diese Frage zu antworten. Wozu? Wozu all die Geheimniskrämerei? Erneut stieg bitterer Zorn in Jocelyn auf. Mit Harry hatte Dumbledore doch die gleichen Spielchen gespielt. Wieso nur hatte er immer so nebulös reden müssen? Wieso hatte er ihr nicht gesagt, dass sie keinen Zeitumkehrer von Fiona vermacht bekommen hatte, und sie stattdessen Ewigkeiten darüber nachgrübeln lassen? Rückblickend erschien es ihr gerade zu absurd, dass sie geglaubt hatte, einfach so einen Zeitumkehrer vererbt bekommen zu haben, waren diese doch streng verwahrt.
Was aber war das für eine Erinnerung, von der Fiona wollte, dass Jocelyn sie sah?Jocelyn sank vor dem Denkarium in Dumbledores Büro auf die Knie. Auf dem Weg hierher hatte sie keine Menschenseele getroffen. Selbst die Gemälde in Dumbledores Büro mit den ehemaligen Schulleitern Hogwarts waren leer. Alle hatten sich in der Großen Halle versammelt und trauerten um die Gefallenen. Lorcan. Der Gedanke, dass er da nun lag, aufgebahrt in einer Reihe mit den anderen Toten, zerriss ihr fast das Herz. Das Schlimmste war, dass es so ein unehrenhafter Tod gewesen war. Er fiel schließlich nicht beim Kampf gegen Voldemort. Niemand würde um ihn trauern, niemand außer sie. Wie um ihrem eigenen Kopf zu entkommen, zerschlug Jocelyn den Anhänger am Rand des Denkariums und leerte den Inhalt in das Gefäß. Ohne innezuhalten senkte sie den Kopf, bis sie mit der Nasenspitze die merkwürdig wabernde Flüssigkeit berührte. Sie fühlte sich, als würde sie mit dem Kopf voran in das Denkarium fallen. Sie schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als sie Stimmen um sich herum hörte.
Der Anblick, der sich ihr bot, war einer, der ihr bereits von anderen Erinnerungen Fionas bekannt war. Wieder einmal befand Jocelyn sich in ihrem alten Zuhause. Fiona und Dumbledore standen mit dem Rücken zu Jocelyn und redeten leise miteinander. Vorsichtig umrundete Jocelyn Fionas Lieblingssessel, bis sie ihrer Tante ins Gesicht schauen konnte. Der Anblick ihrer vertrauten Gesichtszüge versetzte ihr einen schmerzhaften Stich.
„...weiß nicht, Albus", sagte Fiona gerade und musterte Dumbledore stirnrunzelnd. Jocelyns ehemaliger Schulleiter wirkte jünger, als sie ihn in Erinnerung hatte. Seine Augen hinter der halbmondförmigen Brillen blickten, ähnlich wie Fionas, besorgt.
„Ich gebe zu, es ist ein Risiko", sagte er langsam und seufzte. „Aber was bleibt dir für eine Wahl?"
Fiona seufzte nun auch. „Hältst du ihn für vertrauenswürdig?"
„Nun, er ist sicher ein Mensch mit zweifelhaften Moralvorstellungen. Und doch kennt er sich besser mit Horkruxen aus, als jeder andere Zauberer, der mir bisher begegnet ist. Sicher besser als Voldemort selbst."
„Das ist unerforschte Magie, Albus", sagte Fiona und ging hinüber zum Fenster, um hinaus in die Nacht zu starren. Jocelyn dachte plötzlich, dass sie damals sicher bereits geschlafen hatte. Vielleicht war es einer dieser Nächte gewesen, in denen sie sich zu ihrem Bruder geschlichen hatte. Wieder musste sie an ihre verschränkten Hände denken. Jocelyn trat neben Dumbledore, der gedankenverloren in Richtung der Tür blickte, die zu den Schlafzimmern führte.
„Und es war auch unerforschte Magie, die Voldemorts Seelenbruchteil in dem Jungen bisher in Schach halten konnte."
„Aber er beeinflusst ihn", sagte Fiona und drehte sich abrupt zu Dumbledore um. „Da liegt eine Dunkelheit auf seinem jungen Herzen, die durch und durch falsch ist." Bekümmert starrte sie zu Boden. „Wie konnte Molana das ihrem eigenen Kind nur antun."
„Sie hat den falschen Pfad bestritten", antwortete Dumbledore schlicht. Doch der kummervolle Ausdruck in seinen klugen Augen verriet, dass auch er sich diese Frage stellte.
„Denkst du manchmal", entwich es Fiona plötzlich unerwartet heftig, „dass wir einen furchtbaren Fehler machen? Dass wir, wenn auch aus den richtigen Gründen, die falschen Entscheidungen treffen? Die kleine Jocelyn...Sie liebt ihren Bruder so sehr. Das zu sehen bricht mir das Herz." Erstickt brach Fiona ab. Dumbledore trat mit sanftem Gesichtsausdruck hinter sie und legte ihr kurz eine Hand auf die Schulter.
„Sei nicht so streng zu dir, Fiona", sagte er. „Ich denke, es gibt in dieser Situation kein richtig und kein falsch."
Plötzlich stieg an Jocelyns Sichträndern Nebel hoch und als er sich verzog, hatte sich die vor ihr liegende Szenerie verändert. Um sie herum herrschte Dunkelheit und es dauerte, bis Jocelyn erkannte, dass sie sich in einem Wald befand.
„Was ist los mit ihm?", hörte sie dicht neben sich plötzlich Fionas Stimme und zuckte zusammen. Wenig später flackerte das Licht eines Zauberstabs auf und Jocelyn bot sich ein gespenstisches Bild. Fiona, Dumbledore und ein Mann standen im schwachen Licht neben einem großen Kessel und Fiona beugte sich hinunter zu einem kleinen Bündel am Boden. Jocelyn brauchte, bis sie in dem Bündel Lorcan erkannte. Er war fast noch ein Kind, mit langen, schlaksigen Armen und Beinen. Er schien bewusstlos.
„Was haben Sie getan?", fuhr Fiona den unbekannten Mann an.
„Ich habe Ihnen gesagt, ich kann nicht garantieren, dass es funktioniert", gab der Mann mit unangenehm schnarrender Stimme zurück. „Das wird sich zeigen."
Erneut änderte sich die Szene. Plötzlich befand Jocelyn sich in Dumbledores Büro. Sie war mit Fiona allein, die mit wehendem Rock unruhig hin und her lief. In der Hand hielt sie eine Kette. Jocelyn stockte, als sie den Anhänger erblickte, der wie eine Sanduhr aussah. Auf einmal ging die Tür auf und Dumbledore kam herein. „Fiona!", sagte er überrascht. „Albus", sagte Fiona und wirkte gehetzt.
„Was ist los?", sagte Dumbledore ruhig und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Fiona hörte nicht auf, unruhig auf und ab zu laufen.
„Ich habe das Gefühl, es wird bald etwas Schlimmes passieren", sagte sie und klang abwesend, tief in Gedanken versunken.
Plötzlich fiel Jocelyns Blick auf die Zeitung auf Dumbledores Schreibtisch und als sie das Datum darauf sah, stockte sie. Drei Tage vor Fionas Tod. Drei Tage, bevor Jocelyns Leben sich für immer schlagartig ändern würde.
Dumbledore sah Fiona stumm an. „Der Junge?"
„Was auch immer dieser Scharlatan gemacht hat, es hat nicht geholfen", meinte Fiona und lief nur noch schneller auf und ab. „Er ist seit Tagen in einer düsteren Stimmung, redet dauert davon, dass Voldemort zurückkommen wird."
„Vielleicht fühlt er etwas." Dumbledore starrte aus dem Fenster in seinem Büro.
„Ich möchte, dass du das hier nimmst", sagte Fiona und hielt die Kette nach oben, die sie umklammert hielt.
„Was ist das?", fragte Dumbledore verblüfft.
„Es ist seit Jahrhunderten in unserer Familie", antwortete Fiona.
„Ein Zeitumkehrer?"
„Nein, es ist eine Attrappe. Jocelyn soll es bekommen." Kummer überzog ihr Gesicht. Sie hob den Anhänger und nun, wo Jocelyn wusste, worauf sie achten musste, sah sie es im Inneren der Sanduhr wabern.
„Deine Erinnerungen", sagte Dumbledore sanft.
„Nicht alle", antwortete Fiona und zog zwei Phiolen aus der Tasche ihres Umhangs. „Diese hier sind von Molanas Besuchen bei mir." Ihr Gesicht verdüsterte sich. „Ich möchte, dass du sie ihr zeigst, sobald du denkst, sie ist dafür bereit."
„Und was ist mit diesen hier?", meinte Dumbledore und zeigte auf die Kette.
„Diese hier erzählen von unserem gescheiterten Versuch, Lorcan zu retten", sagte Fiona bitter.
„Du weißt noch nicht, ob der Versuch gescheitert ist", hielt Dumbledore mit sanfter Stimme dagegen.
Er kam näher und musterte die Kette neugierig. „Wie funktioniert sie?"
„Wenn sie die Sanduhr dreht, dann offenbaren sich die Erinnerungen."
„Wieso glaubst du, dass sie ihn benutzen wird?"
„Da bin ich mir nicht sicher. Ich denke, einzig eine große Verzweiflung wird sie dazu bringen. Die Verzweiflung, dass ihr Bruder tot ist..." Fiona schluckte und senkte den Blick auf die Kette. „Und dann soll sie wissen, dass ich alles probiert habe, um ihn zu retten. Dass auch ich ihn geliebt habe."
„Aber vielleicht", sagte Dumbledore, „vielleicht waren unsere Versuche, den Seelenbruchteil Voldemorts von der Seele des Jungens zu lösen, auch nicht vergeblich und er muss nicht sterben."
Fiona schloss die Augen und lächelte. „Vielleicht."
Plötzlich wurde alles um Jocelyn herum schwarz und mit einem Ruck landete sie zurück in der Realität, in Dumbledores Büro, in dem eine schreckliche Stille herrschte. Sie schnappte nach Luft und hörte immer noch Fionas Stimme in sich nachhallen: „Und dann soll sie wissen, dass ich alles probiert habe, um ihn zu retten. Dass auch ich ihn geliebt habe."
Zum wiederholten Male in den letzten Stunden spürte Jocelyn Tränen auf ihren Wangen brennen. Was auch immer Dumbledore und ihre Tante damals alles versucht hatten, um Lorcans Leben zu retten, es hatte nicht funktioniert.
Jocelyns Beine waren schwer, als sie die Treppe vor Dumbledores Büro hinunterlief. Die Kette mit dem zerbrochenen Anhänger fest umklammert, durchquerte sie den Eingangsbereich, versuchte nicht auf die Zeichen der Verwüstung zu starren, die dort, genau wie sonst überall im Schloss, zu sehen waren. „Jocelyn!", hörte sie plötzlich hinter sich eine Stimme, als sie schon fast die Flügeltüren erreicht hatte, die hinaus aus dem Schloss führten. Sie drehte sich langsam um und sah Harry, der im Eingang zur Großen Halle stand. Er war bleich und sah aus, als ob er jeden Moment umkippen würde.
„Was ist los?", fragte Jocelyn, als sie den merkwürdigen Ausdruck in seinen Augen sah.
„Du solltest mitkommen", sagte er.
Er drehte sich bereits um und Jocelyn folgte ihm in die Große Halle, obwohl sich alles in ihr davor sträubte. Es lag der Geruch von Tod, Blut und Schweiß in der Luft. Der Raum war so sehr gefüllt, dass Jocelyn das Atmen noch schwerer als zuvor fiel. Sie stolperte hinter Harry her, der auf eine kleine Menschenmenge zusteuerte, die sich um etwas versammelt hatte. Als Harry und Jocelyn näher kamen, drehten sich Köpfe und plötzlich teilte sich die Menge. Jocelyn sah Hermine, Ron, Ginny, bevor ihr Blick auf die Person fiel, die auf einem Tisch lag. „Was soll das?", sagte Jocelyn und merkte, wie ihr eine saure Flüssigkeit die Kehle hochstieg. Mühsam schluckend wollte sie sich abwenden, konnte den Anblick ihres toten Bruders nicht länger ertragen, als sie plötzlich ein Geräusch erstarren ließ. „Jocelyn?" Es war nicht mehr wie ein Flüstern, das in dem Lärm in der Halle fast untergegangen wäre.
Jocelyn konnte sich nicht rühren. Plötzlich spürte sie eine Berührung an ihrem Arm und sah, dass Hermine neben sie getreten war. „Er lebt, Jocelyn", flüsterte sie. „Genau wie Harry." Und als Jocelyn es endlich schaffte, sich zu rühren, als sie den Kopf wandte, trafen blassblaue Augen auf blassblaue Augen.~~~~~
Hey liebe Leser, ich hoffe, es geht euch gut? Es ist etwas still um euch geworden. Verfolgt ihr noch die Geschichte? Lasst mir doch gern eure Meinungen zu den letzten Kapiteln da und bewertet sie auch gern, wenn sie euch gefallen haben. Wir nähern uns langsam aber sicher dem Ende der Geschichte...
Liebe Grüße
euer Wörtermädchen xoxo
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Burning Darkness
Fanfiction„Vertraust du mir?" Jocelyn drehte den Kopf, um Draco anzuschauen und ein aufgeregtes Zittern überkam sie, als sie erfolglos versuchte, den unbekannten Ausdruck auf seinem Gesicht zu entziffern. „Ja", flüsterte sie schließlich. Er verzog den Mund...