Jocelyn starrte, bewegungsunfähig wie sie war, zu ihrem Bruder hinauf, der verächtlich auf sie hinunterschaute. Er hob seinen Zauberstab, und sie machte sich bereits auf das Schlimmste gefasst, aber er schlenkerte ihn lediglich, sodass der Ganzkörperklammerfluch von ihr abfiel, und lief dann eilig aus dem Krankenflügel. Jocelyn rappelte sich hastig auf und warf einen schnellen Blick auf Ginny, die, soweit sie das sehen konnte, unversehrt in ihrem Bett lag, bevor sie die Verfolgung ihres Bruders aufnahm. Er war bereits um die Ecke gebogen, als sie ihn atemlos einholte.
„Lorcan!", zischte sie und er ließ sich provozierend viel Zeit, bevor er sich schließlich mit genervtem Gesichtsausdruck zu ihr umdrehte. „Jocelyn!", ahmte er sie nach und zog eine höhnische Grimasse. „Was gibt's?"
„Was hast du mit Ginny gemacht? Warum hast du sie verflucht?!", platzte sie vor Wut bebend heraus. „Bei Merlin, beruhig dich doch mal, Schwester.", spottete Lorcan.
„Bist du total bescheuert?! Das kommt doch mit Sicherheit heraus!"
„Na, und? Was können sie mir schon Schlimmes antun? Mich von der Schule schmeißen?" Er schnaubte abfällig. Er wandte sich um und lief weiter.
Jocelyn musste beinahe rennen, um mit ihm Schritt zu halten. „Wieso hast du das gemacht?", verlangte sie zu wissen.
„Falls es dich beruhigt: Ich wollte nicht der kleinen Weasley schaden, aber was kann ich dafür, wenn sie so dumm dazu ist, einen einfachen Auftrag auszuführen?"
„Du hast sie mit dem Imperiusfluch belegt!", fauchte Jocelyn. Plötzlich blieb Lorcan so abrupt stehen, dass sie gegen ihn prallte. Bevor sie reagieren konnte, drückte er seinen Zauberstab an ihre Kehle. „Genau wie dich, Schwesterlein. Du erinnerst dich?", zischte er mit einem bösartigen Ausdruck in den Augen. Jocelyn, deren Atmung gestockt war, starrte ihn mit vor Angst geweiteten Augen an und er lachte humorlos auf. „Ich denke, du verstehst, warum du jetzt lieber aufhören solltest, mich zu nerven.", sagte er und ließ sie frei.
Sie schnappte nach Luft und rieb sich die Stelle, wo die heiße Spitze von Lorcans Zauberstab sich in ihre Haut gebohrt hatte, während ihr Bruder weiter den Flur hinunterlief. Jocelyn sah ihm mit wachsender Angst hinterher. Wenn es nicht Ginny war, die Lorcan verletzen wollte, wer war es dann? Ihr wurde klar, dass sie es so schnell wie möglich herausfinden musste, denn ihr Bruder schien zu allem bereit. Sollte er noch ein letztes Restchen Menschlichkeit und Güte in sich gehabt haben, so schien dies im Laufe der letzten Wochen vollkommen ausgelöscht worden zu sein. Doch obwohl sie sich dessen bewusst war, obwohl ihr klar vor Augen stand, was Lorcan ihr bereits alles angetan hatte, konnte ein Teil von ihr immer noch nicht glauben, dass ihr Bruder restlos verloren war. Es war der Teil, der im Laufe der Jahre, die Lorcan und sie bei Tante Fiona verbracht hatten, immer mal wieder etwas Menschlichkeit bei ihrem Bruder durchblitzen gesehen hatte. Während Jocelyn langsam zurück zum Gemeinschaftsraum der Slytherins lief, dachte sie, dass auch Fiona noch nicht aufgegeben gehabt hatte. Sie hatte immer felsenfest an das Gute in Lorcan geglaubt, möge er sie auch noch so schäbig behandelt haben. Sie hätte es nicht für gut geheißen, wenn Jocelyn aufgegeben hätte, um ihren Bruder zu kämpfen. Doch mit jedem Mal, mit dem er ihr zeigte, wie gleichgültig sie ihm war, fiel es ihr schwerer. Jocelyn schrak aus ihren Gedanken, als sie plötzlich eine dunkelgekleidete Gestalt mit einer Laterne auf sie zukommen sah. „Miss Fortescue, was haben Sie um diese Uhrzeit noch hier draußen zu suchen?", schnitt Snapes eisige Stimme durch die Stille und Jocelyn blieb schuldbewusst stehen.
„I-ich wollte nur...", stotterte sie, aber ihr Kopf fühlte sich völlig leer an und ihr wollte einfach keine Ausrede einfallen. Snape blieb vor ihr stehen und musterte sie abschätzig über seine lange Hakennase hinweg. „Zu diesen Zeiten ist es nicht empfehlenswert, sich während der Bettruhe außerhalb seines Gemeinschaftsraumes aufzuhalten, Miss Fortescue. Gerade für Sie."
„Was meinen Sie damit, Professor?", fragte Jocelyn verwirrt.
„Ich meine damit, dass Sie verdächtigt werden, Miss Weasley verhext zu haben!", zischte Snape, dem die Geduld auszugehen schien.
„Ich war es nicht!", sagte Jocelyn laut.
„Wie auch immer.", sagte er und trat beiseite. „Los ins Bett jetzt!"
Das ließ Jocelyn sich nicht zweimal sagen; mit einem gemurmelten Gute Nacht setzte sie eilig ihren Weg fort. Der Gemeinschaftsraum war leer, bis auf Montague und seine Freunde, die wohl mal wieder den Feuerwhisky Vorrat aus der Küche minimiert hatten, aber glücklicherweise waren sie bereits so hinüber, dass sie ihr Eintreffen nicht bemerkten. Jocelyn schlüpfte leise in den Schlafsaal der Mädchen und durchquerte ihn. Die meisten der Slytherins schliefen schon, aber als sie an Pansys Bett vorbeikam, richtete sich diese auf und musterte sie mit schmalen Augen. „So spät noch unterwegs gewesen, Fortescue?", wisperte sie.
„Was geht's dich an, Parkinson.", murmelte Jocelyn, die sich inzwischen völlig ermattet fühlte. „Tja, Draco geht's schon was an. Er schien nicht erfreut darüber, dass du ohne ein Wort der Erklärung aus dem Gemeinschaftsraum geeilt bist.", zischte Pansy mit unverhohlener Schadenfreude.
„Es muss furchtbar sein, ein so langweiliges Leben zu führen, dass man sich ständig in das von anderen einmischen muss, was, Pansy?", sagte Jocelyn finster, während sie sich umzog.
„Zumindest muss ich mich nicht krampfhaft wichtigmachen, in dem ich kleine Gryffindors verhexe.", fauchte Pansy, nun gar nicht mehr um eine gedämpfte Stimme bemüht. Jocelyn tat so, als ob sie die Slytherin gar nicht hören könnte, und schlüpfte unter ihre Decke. Erleichtert darüber, ihre giftige Blicke nicht mehr ertragen zu müssen, zog sie die Vorhänge zu und ließ sich nach hinten sinken. Sie schloss die Augen, aber das Gesicht ihres Bruders, das in der Innenwand ihrer Lider eingebrannt zu sein schien, ließ sie noch einige Zeit wach liegen, bevor sie schließlich endlich in einen erschöpften Schlaf fiel.
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Burning Darkness
Fanfiction„Vertraust du mir?" Jocelyn drehte den Kopf, um Draco anzuschauen und ein aufgeregtes Zittern überkam sie, als sie erfolglos versuchte, den unbekannten Ausdruck auf seinem Gesicht zu entziffern. „Ja", flüsterte sie schließlich. Er verzog den Mund...