Freund und Feind

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Jocelyn musste sich eingestehen, dass sie sich verlaufen hatte. Hogwarts hatte tausende Flure und sie hatte merken müssen, dass die ebenfalls in Vielzahl vorhandenen Treppen auch noch ihre Richtungen änderten. Sie würde den Gemeinschaftsraum der Gryffindors niemals finden. Sie ging den scheinbar hundertsten Flur entlang und kam auf eine Idee. Sie blieb neben einem Porträt mit einer blondhaarigen Frau in einem weißen Kleid stehen, die die Augen geschlossen hatte. „Entschuldigung?", sagte sie vorsichtig. Die Frau öffnete ein Augenlid.
„Ähm...Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo der Gemeinschaftsraum der Gryffindors ist?"
Das zweite Augenlid klappte auf. Die Frau blickte sie misstrauisch an.
„Ich bin neu hier.", fügte Jocelyn eilig hinzu. Die Frau nickte verstehend. „Ich zeige es dir."
Sie verschwand aus ihrem Bild und tauchte in dem danebenhängenden wieder auf.
„Na, komm!", rief sie.
Jocelyn setzte sich eilig in Bewegung. Sie hatte Mühe, die Frau nicht aus dem Blickfeld zu verlieren. „So, da sind wir.", sagte sie schließlich, als sie Jocelyn durch unzählige Flure und über unzählige Treppen geführt hatte. Jocelyn stand vor dem Porträt einer fetten Dame in einem pinken Kleid.
„Passwort", verlangte diese gelangweilt. Jocelyn schaute überfordert zu ihrer Führerin, die nun ins Bild der fetten Dame schlüpfte.
„Meine Liebe, das Mädchen ist neu hier."
Die fette Dame schüttelte den Kopf: „Ich mache keine Ausnahmen."
Fünf lange Minuten später rückte die fette Dame das Passwort endlich heraus und Jocelyn schlüpfte durch die Öffnung in den großen, runden Gemeinschaftsraum der Gryffindors. Durch seine vielen unterschiedlichen Sessel und Tische wirkte der Raum sehr gemütlich. Die vielen Fenster ringsum gaben den Blick auf das Schlossgelände frei und Jocelyn schaute voller Ehrfurcht hinaus. Plötzlich bemerkte sie eine Bewegung zu ihrer Linken und zuckte zusammen. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass jemand im Dunkeln in einem der Sessel gesessen hatte.
„Harry?", fragte sie überrascht und erfreut.
Harry sah sie nicht minder überrascht an. „Jocelyn! Bist du jetzt also bei uns?"
Jocelyn nickte lächelnd und auch Harrys Lippen verzogen sich nun zu einem Lächeln. „Und dein Bruder?", fragte er nach.
Jocelyns Lächeln sackte in sich zusammen. „Slytherin.", murmelte sie.
Harry sah sie nachdenklich an. „War er enttäuscht?"
Ihr entwich ein freudloses Lachen. „So kann man es auch nennen.", murmelte sie.
Jocelyn sah sich im Raum um und entdeckte zwei Treppen, die in die Schlafsäle hochführen mussten.
„Da ist der Schlafsaal der Mädchen.", Harry zeigte auf die erste Treppe.
Sie nickte. „Dann...gehe ich mal schlafen, schätze ich.", sagte sie zögernd.
„Okay.", Harry nickte langsam. „Gute Nacht."
„Gute Nacht, Harry." Jocelyn ging die Treppe hinauf und warf einen Blick zurück nach unten.
Harry starrte nachdenklich in die Flammen des offenen Kamins. Dann ging sie durch die Tür in einen behaglich aussehenden Raum voller Betten mit großen, blickdichten Vorhängen. Ganz hinten, neben dem Fenster, war das einzige freie Bett. Es sah aus, als wäre es erst vor Kurzem hergerichtet worden. Jocelyn registrierte erstaunt, dass an dem Fußende des Bettes ihr Koffer lag. Sie setzte sich auf das weiche Bett und sah, dass neben ihr niemand anderes als Hermine ihr Bett hatte. Sie war anscheinend völlig vertieft in ein Buch und hatte sie noch gar nicht bemerkt.
„Hermine?", wisperte sie. Hermine hob ruckartig den Kopf und sah Jocelyn überrascht an.
„Was...", sie verstummte und ihre Augen wurden noch größer. „Du bist bei uns?"
Jocelyn nickte.
„Wow...Freut mich." Danach sah es nicht aus; Hermine wirkte völlig überrumpelt.
Jocelyn erhob sich von ihrem Bett und holte ihren Pyjama aus dem Koffer. Sie zog sich rasch um und schlüpfte dann unter ihre Bettdecke. „Gute Nacht.", sagte sie leise zu Hermine. „Wünsche ich dir auch.", sie lächelte verkrampft. Jocelyn zog ihre Vorhänge zu und legte sich zurück. Es dauerte lange, bis sie endlich in einen unruhigen Schlaf glitt.

Am nächsten Morgen wurde Jocelyn von den anderen Mädchen im Schlafsaal neugierig beäugt.
„Wo warst du vorher an der Schule?", fragte ein dunkelhaariges Mädchen, das sich als Parvati vorgestellt hatte. „Sag nicht, du warst in Beauxbatons?!", warf ein anderes Mädchen ein.
Jocelyn erzählte, dass ihre Tante sie daheim unterrichtet hatte und auf die Frage nach ihrer Familie antwortete sie ehrlich. Irgendwann würden sie es sowieso herausbekommen, deshalb versuchte sie erst gar nicht, ihren Namen zu vertuschen. Die Reaktion darauf war pure Ungläubigkeit. Sie sahen sie alle mit großen Augen an und begannen dann aufgeregt miteinander zu tuscheln. Jocelyn verließ resigniert den Schlafsaal, um in die große Halle zu gehen. Hermine war wohl schon früher heruntergegangen, denn Jocelyn konnte sie nirgends sehen. Und tatsächlich saß sie schon am Gryffindor- Tisch, als Jocelyn die Halle betrat. Sie lief an den Slytherins vorbei und hielt den Blick stur gerade ausgerichtet. Als sie endlich den Gryffindor-Tisch erreichte, zögerte sie. Schließlich ließ sie sich an dem Tischende neben einem gutmütig dreinschauenden Jungen nieder, der daraufhin verblüfft von seinem Rührei aufsah. Sie lächelte ihn freundlich an. Dann nahm sie sich ein Toast und kaute lustlos darauf herum. Leider saß sie so, dass sie direkt auf die Slytherins schauen musste. Ihr Blick fiel auf ihr Bruder, der gerade mit großen Gesten etwas erzählte, und sie kaute noch missmutiger. Nach dem Essen wurde der Stundenplan für alle ausgeteilt und Jocelyn sah, dass sie erst einmal eine Freistunde hatte. Sie folgte dem Schülerstrom hinaus aus der großen Halle und blieb unentschlossen stehen. Es musste doch hier bestimmt eine Bibliothek geben, in der sie sich die Zeit vertreiben könnte. Aber wie sollte sie die finden? In dem Moment liefen Harry, Ron und Hermine an ihr vorbei. Sie schienen sie gar nicht bemerkt zu haben, denn sie waren in ein Gespräch vertieft. Nach kurzem Überlegen befand Jocelyn, dass sie sich ohne Hilfe auf der Suche nach der Bibliothek sowieso nur verlaufen würde, und ging die große Steintreppe hinunter ins Freie. Der Morgen war frisch und windig. Sie lief langsam hinunter zum See und setzte sich dort in den Schatten eines Baumes. Jocelyn schlang ihren Schulumhang enger um sich und lehnte den Kopf an den Baumstamm. Sie wusste nicht, wie lange sie so gesessen und ihrer Traurigkeit nachgehangen hatte, als sie jemand auf sich zulaufen hörte.
Sie öffnete die Augen und erblickte Harry. „Hey.", sagte er.
Jocelyn legte überrascht den Kopf in den Nacken und blinzelte gegen die Sonne an, die sich durch die Wolken gebrochen hatte. Harry zögerte, dann setzte er sich neben sie ins Gras.
„Wo sind Hermine und Ron?", fragte Jocelyn beiläufig. Sie dachte wieder an ihre Reaktion, als sie erfahren hatten, dass sie eine Fortescue war.
Harry zuckte die Schultern. „Keine Ahnung.", antwortete er knapp.
„Habt ihr euch gestritten?", hakte Jocelyn vorsichtig nach.
Harry seufzte und massierte sich die Schläfen. „Ich weiß, dass sie es nur gut meinen, aber ihre besorgten Blicke machen mich langsam wahnsinnig.", murmelte er undeutlich.
Jocelyn wusste nicht recht, was sie mit dieser Äußerung anfangen sollte. „Ich komm ehrlich gesagt nicht so ganz mit.", sagte sie langsam.
Harry sah auf. „Letztes Jahr ist Cedric Diggory, ein Mitschüler von mir, umgebracht worden."
„Ja, ich habe von seinem Tod gelesen. Der Tagesprophet hat es als Unfall dargestellt.", erwiderte Jocelyn.
Harry schnaubte. „Es war kein Unfall! Voldemort hat ihn umgebracht!", rief er gereizt aus.
Jocelyn richtete sich abrupt auf. „Was?"
Harry umfasste knapp, was passiert war und als er endete, schwieg Jocelyn betroffen. Harry fasste ihr Schweigen falsch auf.
„Du glaubst mir nicht, oder?", äußerte er finster.
„Natürlich glaube ich dir.", sagte Jocelyn stirnrunzelnd.
„Tja, da bist du aber fast die Einzige.", Harry rieb sich geistesabwesend über seine Narbe und starrte ins Nichts.
„Die Menschen verschließen die Augen vor der Wahrheit. Sie wollen es nicht wahr haben.", stellte Jocelyn fest.
Harry zog die Augenbrauen zusammen: „Aber das ist dumm! Früher oder später werden sie es einsehen müssen!"
Jocelyn, der plötzlich wieder etwas einfiel, äußerte: „Du hast gestern irgendetwas von einer Anhörung gesagt..."
„Ja. Ich habe in Gegenwart meines Cousins – ein Muggel - ein Patronus-Zauber ausgesprochen, da uns Dementoren angegriffen haben. Das Ministerium hat es als Lüge dargestellt, genau wie alles andere."
„Die Dementoren haben sich Voldemort angeschlossen.", murmelte sie.
Keiner wusste das besser als Jocelyn. Wäre es nicht so, säßen ihre Eltern jetzt noch immer in Askaban. Entweder hatte das Ministerium auch diese Sache vertuscht, oder sie hatten noch gar nicht mitbekommen, was geschehen war, denn Voldemort hielt sich dieses Mal viel bedeckter. So, dachte Jocelyn schaudernd, ist er sogar noch gefährlicher.

Burning DarknessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt