Reine Willenssache

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Am nächsten Morgen war sie viel zu spät dran und zog sich mal wieder in Windeseile an. Sie eilte durch den Kerker und die Treppe hinauf. Als sie die Große Halle betrat und die Gryffindors in ihren Mannschaftstrikots bemerkte, fiel ihr schlagartig ein, dass heute das Quidditch-Spiel war. Die Slytherins trugen auch schon ihre grün-weißen Trikots und ihr Blick fiel auf Draco, der hasserfüllt Harrys Rücken anstarrte. Jocelyn sah sich nach einem freien Platz um und erkannte mit Schrecken, dass der einzige noch freie Platz neben Blaise war. Als hätte er ihren Blick gespürt, sah er auf. Sie wandte hastig den Kopf ab und ging zu Draco herüber. Er blickte verwundert auf und sie gab ihm zu verstehen, dass er rutschen sollte. Mit einem amüsierten Grinsen machte er ihr so gut wie möglich Platz und sie quetschte sich neben ihn. „Wer hätte gedacht, dass du irgendwann mal das kleinere Übel sein würdest?“, murmelte sie, was ihn feixen ließ. Sie nahm sich etwas Kürbissaft und eine Scheibe Toast und schlang es hastig hinunter, während sie zu ignorieren versuchte, dass sich ihre Arme und Beine die ganze Zeit berührten. 
„Kommst du nachher zum Spiel?“, fragte Draco beiläufig, aber sie sah ihn trotzdem verwundert an. 
„Ja, ich schätze schon.“, antwortete sie nach kurzem Zögern. Er nickte knapp und sie trank ihren Kürbissaft aus und wollte aufstehen, als ihr nochmal etwas einfiel. 
Sie biss sich unsicher auf die Lippe und fragte schließlich mit gesenkter Stimme: „Wann hättest du Zeit? Für den Okklumentik-Unterricht, meine ich.“ 
Er blickte sie an und seine Augen bohrten sich für ein Moment in ihre. „Warum ist dir das so wichtig?“, wollte er wissen. Sie schluckte und sah automatisch zu ihrem Bruder. Draco folgte ihrem Blick und sie hatte Angst, zu viel verraten zu haben. Nervös befeuchtete sie sich die Lippen, während er sie eine Weile nachdenklich betrachtete, bis er schließlich vorschlug: „Nach dem Spiel?“ Sie nickte und war erleichtert, dass er nicht mehr weiter nachhakte. Nach dem Frühstück ging sie mit den anderen hinunter zum Quidditchfeld. Das Wetter heute war alles andere als ideal zum Spielen, denn es stürmte und der Himmel war grau und nebelig. Sie suchte sich ein Platz etwas abseits von den anderen Slytherins auf der Tribüne und sah automatisch hinüber zu den Gryffindors. Hermine saß zwischen Parvati und Neville und wartete sichtlich aufgeregt darauf, dass die Mannschaften aus den Kabinen kommen würden. Hatte sie bei dem letzten Spiel Gryffindor gegen Slytherin tatsächlich neben ihr auf der Tribüne gesessen? Dieser Moment kam ihr unglaublich lang her vor. Der Wind peitschte ihr ins Gesicht und sie zog fröstelnd ihren Slytherin-Schal höher. In dem Moment begannen die Slytherins zu jubeln und sie sah, dass die Mannschaft die Kabine verlassen hatte. Wenig später marschierten auch die Gryffindors aufs Feld, was Jubel bei ihren Hausgenossen und Buhrufe bei den Slytherins auslöste. Ihre Augen fanden Draco, dessen weißblonde Haare sich deutlich von den anderen abhoben. Er sah in Richtung der Tribünen und schien in den Reihen der Zuschauer jemanden zu suchen. Ihr Herz machte einen kleinen Sprung, als sein Blick an ihr haften blieb und sich ein kleines, kaum wahrnehmbares Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Als er sich schließlich vom Boden abstieß, wirkte er regelrecht beschwingt. Sie folgte ihm mit ihrem Blick und ertappte sich dabei, wie sie aufgeregt auf ihrer Unterlippe herumkaute. Nach einer halben Stunde – es stand 120: 70 für Slytherin – ging Harry auf einmal abrupt in die Tiefe, dicht gefolgt von Draco. Die Zuschauer begannen die beiden anzufeuern und Jocelyn beobachte gebannt, wie sie sich unaufhaltsam dem Boden näherten, wo der Schnatz in der Luft schwebte. Kurz bevor sie auf den Boden krachten, rissen sie ihre Besenstiele nach oben und einen Moment später begannen die Gryffindors zu jubeln, als Harry den Schnatz stolz in die Luft hielt. Die Slytherins buhten lautstark und Jocelyn sah, wie Draco einen wütenden Fluch ausstieß. Wenig später stand sie zusammen mit den anderen auf und bahnte sich einen Weg durch die Zuschauermengen. Gerade als sie die Tribüne verlassen hatte und einen Blick zum Spielfeld warf, sah sie, dass Fred und George den tobenden Harry davon abhalten mussten, sich auf Draco zu stürzen. Ohne nachzudenken ging sie zu ihnen herüber. Fred bemerkte sie als erstes und sagte verächtlich: „Sieh' mal, Malfoy, deine kleine Freundin kommt dir zur Hilfe.“ 
Seine Verachtung versetzte ihr einen Stich. „Nimm deinen Mund lieber nicht so voll, Weasley.“, entwich es ihr hart. 
Draco warf ihr einen erstaunten Blick zu. Harry hörte auf, gegen die Weasley- Zwillinge anzukämpfen, und starrte sie mit zusammengekniffenen Augen an. 
„Kommst du?“, Jocelyn schnappte sich Dracos Arm und er ließ sich widerstandslos von ihr mitziehen. Er sah merkwürdig zufrieden aus und sie glaubte zu wissen, was der Grund dafür war, denn als sie sich nochmal umwandte, sah sie, wie Harry ihnen mit wütender Miene hinterherstarrte und Draco schien das ebenfalls bemerkt zu haben. Er legte den Arm um sie und zog sie besitzergreifend zu sich. Auch wenn es nur Show war, schlug ihr Herz abrupt schneller. „Also“, sagte sie etwas atemlos. „Wo findet unsere erste Unterrichtsstunde statt?“ 
„Warte es ab.“, sagte er grinsend. Sie gingen in den Gemeinschaftsraum, weil Draco nach dem Spiel duschen wollte und sie noch ein paar Hausaufgaben zu erledigen hatte. Gerade als sie ihren Zaubertränke-Aufsatz herausgeholt hatte, betraten die anderen Slytherins den Gemeinschaftsraum. Lorcan kam auf sie zu und sie spannte sich an. „Hallo, Schwester“, begrüßte er sie mit herablassenden Grinsen. Er setzte sich neben sie und beugte sich vor. „Geh zum Kamin und halte deine Fingerspitzen ins Feuer.“ 
Sie hatte den Blick mit Absicht fest auf ihr Pergament geheftet gehabt, aber jetzt hob sie abrupt den Kopf. „Was?“, entwich es ihr fassungslos, aber im selben Moment hatte sie bereits ihren Aufsatz weggelegt und war aufgestanden. Lorcan folgte ihr zum Kamin und stellte sich so hinter sie, dass den anderen Slytherins die Sicht auf sie genommen war. Ihre Hand hob sich gegen ihren Willen und im nächsten Moment versenkten die Flammen ihre Haut. Sie öffnete den Mund zu einem qualvollen Schrei, aber Lorcan zischte: „Silencio“, und ihr entwich kein Ton mehr. Sie krümmte sich unter unvorstellbaren Schmerzen, bis sie die kalte Stimme ihres Bruders hörte: „Das genügt.“ Sie zog abrupt ihre Hand zurück. Ihre Knie knickten unter ihr ein und sie wäre zu Boden gestürzt, hätte Lorcans stählerner Griff um ihren Arm sie nicht davon abgehalten. „Sehr gut.“, meinte er mit zufriedener Stimme. „Ich sehe, du gehorchst mir immer noch, kleine Schwester.“ Er ließ sie los und sie bemühte sich um Fassung. Sie verbarg ihre Verbrennungen unter ihrem Umhang und stolperte tränenblind zum Ausgang des Gemeinschaftsraums. Sie ging hastig den Gang hinunter, als sie hinter sich Schritte hörte. Sie erschrak, aber es war nur Draco. „Was ist los?“, fragte er und sein Blick glitt prüfend über ihr Gesicht. Sie streckte ihm stumm ihre Hand entgegen. Einige Sekunden starrte er reglos auf die Verbrennungen, dann legte er plötzlich die Arme um sie und zog sie sanft zu sich. Sie verbarg ihr Gesicht an seinem Hals und er murmelte: „Lorcan.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Sie nickte und er strich ihr so unerwartet zärtlich über die Haare, dass ihr Hals eng wurde. Plötzlich verspürte sie den Wunsch, ihm alles anzuvertrauen. „Er hat…“, sie versuchte weiterzusprechen, aber der Imperius-Fluch machte es ihr unmöglich. Hilflos gab sie es auf. „Komm mit.“, sagte Draco. Er ließ sie los und nahm ihre unversehrte Hand. Sie verließen den Kerker und er führte sie die Treppen bis zum siebten Stock hoch. Dort blieb er stehen und bevor sie sich darüber wundern konnte, erschien in der Wand vor ihnen urplötzlich eine Tür. Ihr Mund klappte vor Überraschung auf und sie hörte ihn neben sich leise lachen. „Toll, oder?“, sagte er stolz. Sie nickte, immer noch sprachlos und folgte ihm in den Raum. Er war so ähnlich gestaltet wie der Gryffindor-Gemeinschaftsraum, mit gemütlich wirkenden Sesseln, einem Tisch und einigen Gemälden. „W-was ist das für ein Raum?“, entwich es ihr überrumpelt. 
„Der Raum passt sich den Wünschen seiner Besucher an. Ich habe ihn erst vor kurzem entdeckt.“, erzählte Draco. Er dirigierte sie zu einem der Sessel und verlangte, dass sie ihre verletzte Hand ausstreckte. Einen Moment lang hatte Jocelyn sie fast vergessen, aber jetzt traf sie der Schmerz wieder mit voller Wucht. Sie zuckte zusammen, als Draco sie vorsichtig begutachtete. Schlielich zog er seinen Zauberstab aus dem Umhang und murmelte: „Episkey.“. Die Schmerzen wurden nur kaum merklich besser. „Die Verbrennung ist zu tief. Du brauchst Diptam.“, stellte Draco stirnrunzelnd fest. Dann, als würde ihm etwas einfallen, hob er den Kopf und sah sich mit einem schiefen Lächeln im Raum um. „Wer sagt's denn.“, murmelte er. Er stand auf und sie folgte ihm mit ihrem Blick. Er ging zu einem Regal, in dem verschiedene Tränke und…ein Fläschchen Diptam standen. Draco nahm es an sich und setzte sich wieder neben sie. Als er ihren ungläubigen Blick sah, entwich ihm ein Lachen. „Ziemlich verrückt, was?“, merkte er amüsiert an. Sie nickte völlig perplex und sah zu, wie Draco das Fläschchen öffnete. Nach einigen Tropfen der magischen Essenz waren die verbrannten Stellen auf ihrer Haut zwar noch rot, taten aber nicht mehr weh und neue Haut begann sich bereits darüber zu bilden. „Danke.“, seufzte sie erleichtert. Sie blickte in seine grauen Augen und eine merkwürdige Spannung breitete sich zwischen ihnen aus. „Kein Problem.“, sagte er schließlich. Sie merkte, dass sie den Atem angehalten hatte und stieß ihn aus. „Also, hm…Sollen wir dann anfangen?“, fragte sie und fuhr sich nervös durch die Haare. „Okay.“, er sah etwas überrascht aus. Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, dass sie nach dem, was gerade passiert war, immer noch Okklumentik lernen wollte. Er konnte ja nicht wissen, dass sie es gerade deswegen noch dringender lernen wollte. Sie rutschte in ihrem Sessel nach vorne und sah ihn aufmerksam an. „Wie kann ich verhindern, dass jemand in mein Geist eindringt?“ 
Draco runzelte nachdenklich die Stirn. „Okklumentik erfordert viel Willenskraft und Konzentration. Wenn jemand versucht, in deinen Kopf zu kommen, musst du dich ganz auf die Geheimhaltung deiner Gedanken und Gefühle konzentrieren, sonst hat er ein leichtes Spiel.“ 
„In Ordnung.“, sagte sie langsam. Draco zog seinen Zauberstab und sah sie fragend an. Sie atmete tief durch und nickte. „Legilimens!“, sagte er. 
„Avada Kedavra!“ Der grüne Blitz traf Fiona mitten in der Brust. Sie fiel wie in Zeitlupe nach hinten und mit einem letzten Zucken ihres Körpers blieb sie reglos am Boden liegen. Sie ging mit einem erstickten Laut neben ihrer Tante zu Boden. Tränenblind tastete sie nach ihrer Hand. „Oh nein, nein, nein...“, weinte sie völlig außer sich vor Schmerz. „Steh auf!“, zischte ihr Vater. Er zog sie grob von Fionas leblosem Körper weg und sie wehrte sich verzweifelt gegen ihn.... 
„Mama!“, weinte ein kleines Mädchen voller Angst. „Du brauchst doch keine Angst haben. Brauch sie Angst haben?“ Gelächter erklang und zu dem Entsetzen des kleinen Mädchens lachten ihre Mutter und ihr Vater mit. „Mama“, rief sie nochmal, aber dieses Mal so kläglich, dass es niemand hörte…
Sie lief mit zehn Jahren einen felsigen Strand entlang. „Jocelyn, lauf nicht so weit weg, hörst du?“, die Stimme ihrer Tante wurde vom Wind weggetragen. Hinter einem Felsen bewegte sich etwas und sie ging neugierig in die Hocke. Es war eine kleine Klapperschlange. Sie streckte die Hand aus. „Komm schon, kleine Schlange, du brauchst keine Angst haben.“ Und die Schlange kroch unter dem Felsen hervor, auf sie zu…
Jocelyn riss entsetzt die Augen auf. Sie kniete auf den Boden und als sie mit zittrigen Beinen aufstand, traf sie Dracos Blick. „Du bist ein Parselmund?“, fragte er ungläubig.

Burning DarknessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt