2 Monate später
„Hast du es schon gelesen?", vor Jocelyn wurde eine Zeitung auf den Frühstückstisch gepfeffert. Sie sah von ihrem Rührei auf und starrte auf die Schlagzeile, die ihr entgegen schrie: „DER JUNGE, DESSEN HERZ GEBROCHEN WURDE". Und auf dem Titelbild - war sie. Jocelyn blinzelte perplex und starrte hinauf in Dracos graue Augen, die finster dreinblickten. Dann sah sie wieder hinunter auf die Zeitung. Das Bild von ihr musste vor ein paar Tagen aufgenommen worden sein, als sie für die Anhörung im Ministerium gewesen war. Mit einem unbehaglichen Gefühl im Magen beobachtete Jocelyn, wie sich ihr Abbild mit durchgestrecktem Rücken und stur nach vorn gerichtetem Blick einen Weg durch die Menschenmenge vor dem Ministerium bahnte. Mit ihrem langen, weißen Mantel, den sie bis zum Kinn zugeknöpft hatte, und den zu einem strengen Knoten zurückgebundenen roten Haaren sah sie Molana so ähnlich, dass sie sich bemühen musste, nicht zusammenzuzucken. Mit wachsendem Unglauben las Jocelyn die Unterschrift unter dem Bild: „Hat die Todesserprinzessin Jocelyn Fortescue das Herz des Auserwählten gebrochen?"
Sie schüttelte langsam den Kopf. „Was zur...", fing Jocelyn an, doch dann unterbrach Draco sie, indem er ihr die Zeitung wieder unter der Nase wegzog. Mit einem zynischen Ausdruck um die Lippen schlug er sie auf und blätterte zu dem Artikel. Dann fing er an, mit schneidender, schmerzhaft ironischer Stimme, daraus vorzulesen. „...einer verlässlichen Quelle zufolge spielte Fortescue über die gesamten letzten Monate hinweg mit den Gefühlen des Jungens, der die gesamte Zaubererwelt im Zuge eines spektakulären Kampfes von jenem befreite, dessen Name nicht genannt werden darf...zerriss mit eiskalter Berechnung sein Herz....ist er doch Hals über Kopf in die Todesserprinzessin verliebt... ‚Harry ist verrückt nach ihr, das wusste jeder in Hogwarts. Natürlich auch Fortescue, was sie zu ihrem Vorteil genutzt hat', erzählt uns unsere Informantin. Eigentlich ist Fortescue mit dem Malfoy-Spross Draco liiert, Gerüchten zufolge sind die beiden sogar bereits verlobt, aber offenbar genügte ihr das nicht...", Draco verstummte, als Jocelyn hörbar nach Luft schnappte. Sie riss ihm wieder die Zeitung aus der Hand und überflog nun selbst den Artikel, erwartete fast, dass Draco die Sätze daraus nur erfunden hatte, aber nein, genau so standen sie geschrieben. „Wie können sie es wagen?", stieß Jocelyn hervor. Spielt mit dem Herzen beider Jungen...Kann sich offenbar nicht entscheiden, las sie.
Die Autorin des Artikels hieß Rita Kimmkorn. Jocelyn glaubte, den Namen schon einmal irgendwo gehört zu haben, aber konnte ihn gerade nicht einordnen. Als sie erneut zu Draco blickte und den düsteren Ausdruck in seinen Augen sah, faltete sie die Zeitung rasch beisammen, stand auf und lief hinüber zum Kamin, in dem ein Feuer brannte. Kurzerhand schmiss sie die Zeitung hinein. Als sie sich wieder umdrehte, sah sie, dass Draco sie mit unbewegter Miene dabei beobachtet hatte. „Draco, das ist nichts als Schund, was da geschrieben steht. Das ist Verleumdung...", sagte sie.
„Manches davon stimmt."
Jocelyn zuckte zusammen, als sie hörte, wie eisig Dracos Stimme klang. „Bitte was?", antwortete sie ungläubig. „Das ist nicht dein Ernst, Draco."
„Potter ist ‚verrückt nach dir'", stieß er hervor und machte dabei ironische Anführungszeichen in die Luft.
Jocelyn schüttelte unwillig den Kopf. „Was soll das denn? Wieso bist du nun auf mich wütend? Ich kann nichts für diesen Artikel", sagte sie und spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte und sich ein Brennen hinter ihren Augen einstellte. Zornig wandte sie sich ab und starrte in die Flammen. Sie hasste, wie dünn ihr Nervenkostüm geworden war, wie wenig ausreichte, um sie aufzuwühlen. Der Krieg war zu Ende, aber gleichzeitig wütete er in ihr weiter. Die schrecklichen Dinge, die sie erlebt und gesehen hatte, ließen sich nicht so einfach vergessen. Sie suchten sie heim, in jedem ruhigen Moment. Und sie wusste, dass es Draco gleich ging. Wenn sie die letzten Nächte wieder einmal nicht schlafen hatte können, oder, noch schlimmer, keuchend aus einem Albtraum aufgewacht war, hatte sie an der Art und Weise, wie er atmete, immer erkennen können, dass auch er keinen Schlaf fand. Obwohl sie beide Nacht für Nacht wach lagen, sprachen sie in dieser Zeit nie miteinander, berührten sich auch nicht, sondern lagen stumm nebeneinander im Bett, jeder für sich in seine eigenen, düsteren Gedanken versunken. Es war dann, als wäre eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen.
Auch tagsüber konnte Jocelyn diese Barriere spüren, sie spürte sie, als sie nun wieder in Dracos graue Augen starrte, unter denen, genau wie unter ihren, tiefe, bläuliche Schatten lagen.
„Draco...", fing Jocelyn an, nun wieder mit sanfterer Stimme, aber sie wurden unterbrochen, als Narcissa Malfoy die Küche betrat. Direkt wurde die Atmosphäre noch angespannter.
Nach dem Ende des Krieges hatte Jocelyn vor einer unsicheren Zukunft gestanden. Aufgrund ihrer Minderjährigkeit, welche sie erst in ein paar Monaten ablegen würde, stand sogar mal in Frage, ob sie zwischenzeitlich in ein Waisenheim kommen sollte. Dies konnte letztlich nur dadurch vereitelt werden, dass Narcissa Malfoy bei dem Ministerium eine vorübergehende Vormundschaft für Jocelyn beantragt hatte. Etwas, das Jocelyn in eine unangenehme Lage gebracht hatte. Einerseits konnte und wollte sie Narcissa nicht verzeihen, was sie ihr angetan hatte, aber andererseits kam sie nicht umhin, einen Funken Dankbarkeit ihr gegenüber zu verspüren - schließlich hatte Dracos Mutter verhindert, dass Jocelyn in ein Heim kam. Sie alle drei, Narcissa, Draco und sie, Jocelyn, hatten sich in den vergangenen Wochen vor dem Ministerium für jene Taten verantworten müssen, die sie im Auftrag Voldemorts begangen hatten. Malfoy-typisch hatte Narcissa jegliche Verantwortung von sich gewiesen und hatte das Ministerium davon überzeugen können, dass sie nichts davon freiwillig getan hatte. Auch bei Dracos Anhörungen war sie dabei gewesen, war auch er schließlich noch minderjährig. Draco hatte Jocelyn nicht viel von seinen Anhörungen erzählt, aber auch er wurde von jeglicher Schuld freigesprochen. Jocelyn vermutete insgeheim, dass im Ministerium immer noch einige alte Freunde von Lucius Malfoy saßen. Anders sah es bei Jocelyn aus. Sie hatte bereits zwei Anhörungen hinter sich gebracht, aber es war nun völlig unerwartet noch eine dritte Anhörung angesetzt worden. Seit sie per Eulenpost davon erfahren hatte, waren Jocelyns Nächte noch schlafloser geworden. Die dritte - und wie Jocelyn hoffte, letzte - Anhörung würde in drei Tagen stattfinden. Aber es war der noch unsichere Ausgang einer anderen Anhörung, der sie am meisten beschäftigte. Lorcans. Ihr Bruder saß seit Kriegsende in Askaban für seine Taten und es hatten bereits vier Anhörungen von seinem Fall stattgefunden. Morgen stand die letzte Anhörung an, sofern nicht erneut seitens des Ministeriums entschieden wurde, doch noch mehr Zeugen anzuhören. Es war die alles entscheidende Anhörung - nicht zuletzt, weil für den morgigen Tag der wichtigste Zeuge bisher geladen war: Harry. Jocelyn blickte zu Draco und vermutete, dass sein großer Ärger über den Artikel in Wahrheit hauptsächlich seinen Ursprung darin hatte, dass sie beide Harry morgen das erste Mal seit der Schlacht in Hogwarts wiedersehen würden. Noch immer war Dracos Groll gegenüber Harry nicht kleiner geworden, im Gegenteil. Draco hatte, genau wie Jocelyn selbst, große Probleme damit, das Vergangene zu verarbeiten. Während Harry seit seinem Sieg über Voldemort von der ganzen Zaubererwelt verehrt wurde, waren die Malfoys - mochten sie auch immer noch vereinzelt Freunde im Ministerium haben - in Ungnade gefallen und hatten quasi alles verloren - ihren Stand in der Zauberergesellschaft, einen großen Teil ihres Vermögens, Malfoy Manor - und ihr Familienoberhaupt, Lucius Malfoy. Jocelyn wusste, dass Draco all diesen Groll auf Harry projizierte. Dazu kam, dass er Harry nicht verziehen hatte, dass er sie damals geküsst hatte, dass er nicht vergessen konnte, welche Gedanken er in Harrys Kopf über sie gefunden hatte.
Jocelyn konnte nichts tun, um Dracos Hass gegenüber Harry zu mildern - im Gegenteil. Jedes Wort von ihr zu diesem Thema brachte ihn auf. Sie wünschte, sie könnte zu ihm durchdringen, wusste, wie verletzt und traumatisiert er im Inneren durch das Erlebte war, aber er hielt sie seit Wochen auf Abstand mit seiner typisch kalten, sarkastischen Art. Und sie konnte ihrerseits nicht mit ihm über das sprechen, was sie beschäftigte. Sie hoffte so sehr, dass Harry zugunsten Lorcans aussagen würde. Was hätte sie dafür gegeben, zuvor nochmals mit ihm zu sprechen. Aber vielleicht war es besser so. Sie wollte nicht, dass das Ministerium Harry eine Befangenheit in dieser Angelegenheit nachsagte - auch wenn der Artikel im Tagesprophet heute wahrscheinlich bereits dafür gesorgt hatte. Jocelyn schluckte und merkte, wie die Panik in ihr hochkochen wollte. Das durfte nicht passieren, sie musste ruhig bleiben, wenn sie die nächsten Tage überstehen wollte. Aber es hing so viel von dieser Anhörung morgen ab. Der Gedanke, dass Lorcan in Askaban war, an diesem furchtbaren Ort, quälte sie Tag und Nacht. Wenn sie sich vorstellte, dass er dort den Rest seines Lebens verbringen müsste, wenn morgen etwas schief ging...Jocelyn merkte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigt hatte und ihr die Brust eng geworden war. Sofort versuchte sie, gezielt gegen die Panik in ihr anzuatmen. „Hast du schon gefrühstückt?", Narcissas Stimme brach die durchdringende Stille im Raum und als Jocelyn sie anblickte, sah sie, dass Narcissa lächelnd zu Draco schaute. Dieser drehte sich ohne ein weiteres Wort um und verließ stumm den Raum. Jocelyn hörte Dracos Mutter leise seufzen. Als Jocelyn erkannte, dass sie nun allein mit Narcissa zurückgeblieben war, schickte auch sie sich rasch an, den Raum zu verlassen. Doch als sie an der Tür angekommen war, riss sie Narcissas Stimme zurück. „Er hat den Artikel gelesen, oder?"
Obwohl die Stimme von Dracos Mutter sanft gewesen war, zuckte Jocelyn zusammen. Sie erstarrte, mit dem Rücken zu ihr, an der Tür und sagte: „Ja, hat er." Ein paar Sekunden blieb es still. „Es ist seine Art und Weise, mit allem umzugehen. Er sucht sich jemand, den er hassen kann." Jocelyn überraschten diese Worte so, dass sie sich zu Narcissa umdrehte. Sie saß aufrecht am Esstisch und blickte sie nachdenklich an, während sie sich eine Strähne ihres schönen, blonden Haares hinter das Ohr strich. „Es ist gerade nicht einfach für dich, oder?" Jocelyn blinzelte. Sie war so überrascht über die plötzliche Wärme in Narcissas Stimme, dass sie kein Wort über die Lippen brachte. „Draco ist kein einfacher Mensch, genau wie sein Vater", sagte Narcissa und senkte den Blick nun auf ihre Hände, die sie vor sich auf den Tisch gelegt hatte. Ihre Lippen bildeten einen schmalen Strich. „In einem Moment hatte er einem das Gefühl geben können, heiß und innig von ihm geliebt zu werden, und im anderen hätte man sich an dem Eis, das ihn umgab, regelrecht schneiden können." Sie sprach leise und ihre Stimme klang nun so abwesend, als wäre sie tief in Erinnerungen versunken. Erst nach einigen Sekunden schien sie sich wieder Jocelyns Anwesenheit bewusst zu werden und sah blinzelnd zu ihr auf. „Es wird leichter werden, mit der Zeit", sagte sie und wieder war da diese irritierende Wärme in ihrer Stimme. „Du wirst lernen, dich durch die Eisschichten zu ihm hindurch zu arbeiten."
Jocelyn schwieg. Nach einigen Augenblicken verließ auch sie den Raum, mit langsamen, leisen Schritten.
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Burning Darkness
Fanfiction„Vertraust du mir?" Jocelyn drehte den Kopf, um Draco anzuschauen und ein aufgeregtes Zittern überkam sie, als sie erfolglos versuchte, den unbekannten Ausdruck auf seinem Gesicht zu entziffern. „Ja", flüsterte sie schließlich. Er verzog den Mund...