~ Santaville 1764 ~
Ich stehe am Rande des Waldes und schaue gedankenverloren auf die kleine Stadt hinab, die sich in der hereinbrechenden Dämmerung friedlich vor mir ausbreitet. Es ist ein so schönes und eindrucksvolles Bild, dass ich, ohne es verhindern zu können, vor Sehnsucht wehmütig aufseufze. Kein Künstler der Welt hätte es vermocht, diese Szene so perfekt einzufangen, mit all ihren verschiedenen Facetten und Eigenarten, sodass es diesem Ort gerecht geworden wäre. Selbst meinen Augen scheint die Vollkommenheit des kleinen Fleckchens Erde zu schaffen zu machen, denn sie beginnen mit einem Mal zu brennen, sodass ich alles nur noch schemenhaft wahrnehmen kann. Jedoch stört mich das relativ wenig. Ich weiß ganz genau, was sich vor mir befindet und wie es hier aussieht. Dafür brauche ich nicht einmal hinzusehen. Viel zu oft habe ich diesen Ort in meinen Träumen bewundert.
Kleine, geduckte Häuser schmiegen sich an grüne, saftige Hügel, drängen sich dicht zusammen, als würden sie sich gegenseitig stützen wollen. Träge steigt Rauch aus einigen Schornsteinen empor, erfüllt die Luft mit ihrem eigenen Geruch und zeichnet graue Linien in den dunkelroten Abendhimmel. Es ist ein wirklich atemberaubendes Bild. Ein kleines Stückchen des Paradieses, das sich irgendwie auf die Erde verirrt zu haben scheint.
Gepflasterte Straßen führen zum Mittelpunkt der Häuseransammlung, dem Marktplatz. Er ist ein großer, rechteckiger Platz, in dessen Mitte ein vergoldeter Brunnen mit einer Löwenstatue steht und als Treffpunkt für alle Bewohner des kleinen Städtchens dient. Vor allem, wenn gerade Markttag ist und fahrende Händler von überall her kommen, um ihre Waren feilzubieten.
Hinter den Dächern des alten Rathauses kann man einen Blick auf die alte, majestätische Kirche erhaschen, die bereits bei meinem ersten Aufenthalt in Santaville existiert hat. Wenn auch etwas primitiver und kleiner, als heute. Na gut. Das trifft es irgendwie nicht so ganz. Eher um Welten primitiver. Damals hatte die Kirche nur aus ein paar losen Steinmauern und einem behelfsmäßigen Altar bestanden. Nun jedoch glänzen die Ziegel des Daches in der untergehenden Sonne tief rot, wie frisches Blut, die Fassade erstrahlt in einem herrlichen Schneeweiß und die Rundbögen der Eingänge sind mit filigranen Steinskulpturen versehen, die so lebendig wirken, dass es beinahe den Anschein erweckt, als
könnten sie im nächsten Moment von ihren Plätzen springen und einfach davonlaufen.Weiter hinten sind schwach mehrere Bergketten auszumachen, auf deren Spitzen noch immer Schnee liegt und meinem damaligen, vorübergehenden Wohnort ihr charakteristisches Aussehen verleihen.
Ein beklemmendes Gefühl beschleicht mich und ich schlucke schwer. Wie lange bin ich nun schon nicht mehr hier gewesen? Dreihundert Jahre? Oder sind es doch schon Vierhundert gewesen? Ich weiß es nicht mehr so genau. Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen. Mit der Zeit, die vergeht, ist es bedeutungslos geworden, welches Jahr wir schreiben. Denn Zeit spielt für mich keine Rolle. Das hat sie noch nie getan und wird sie auch niemals tun.
Der Schrei eines Käuzchens lässt mich verwirrt aufschauen und mit der Hand abwesend durch meine Haare fahren, die ich seit neustem kurz trage. Wie lange stehe ich nun schon hier, regungslos und ohne auch nur zu atmen? Ich weiß es nicht. Es können erst zehn Minuten oder aber auch bereits Stunden vergangen sein. Es macht keinen Unterschied für mich. Denn letztendlich bin ich wieder an dem Ort angelangt, der für mich beinahe wie ein Zuhause geworden ist. Zumindest kommt es dem menschlichen Begriff von „Zuhause" ziemlich nahe.
Ich selbst kenne so etwas, wie eine Heimat, nicht. Es ist mir fremd einen Ort zu haben, an den ich immer wieder zurückkehre, da ich etwas mit ihm verbinde. Doch für mich ist dies hier trotzdem ein Platz, an dem ich mich immer Willkommen fühle und mit dem ich viele, schöne Erinnerungen teile. Denn hier, genau an dieser Stelle, habe ich vor knapp 1.800 Jahren meinen ersten Menschen ausgelöscht und erfolgreich mehrere Raubzüge vollendet.
Ich schlucke schwer. Seitdem ist so viel passiert, dass ich mich gar nicht mehr wirklich an alles erinnern kann. Doch das wird sich über kurz oder lang ändern. Sobald ich an einen Ort zurückkehre, an dem ich bereits einmal gewesen bin, kommen alle Einzelheiten meiner Taten in mein Gedächtnis zurück und ich kann dort weiter machen, wo ich aufgehört habe. Vorausgesetzt es gibt noch etwas, was so ist, wie früher.
Die Zeiten ändern sich. Es weht ein neuer Wind, ich kann es spüren. Alles wird zunehmend rasanter, die Unterschiede der einzelnen Länder zueinander dadurch gravierender und mein Auftrag, den ich zu erfüllen habe, dank dem stetigen Bevölkerungswachstum immer einfacher zu vertuschen. Absolut langweilig. Ich suche nach Herausforderungen und Abenteuer, nicht nach leichter Beute. Schließlich will ich mich nicht nur ausruhen. Ich brauche etwas, an dem ich mich messen kann. Ich will meine Macht unter Beweis stellen. Denn was gibt es schon Schöneres, als eine störrische Seele zu bezwingen?
Allmählich bin ich es leid, dass immer alles genau so läuft, wie ich es will. Ich bin gut, in dem, was ich tue und alle Welt soll das erfahren. Schließlich werde ich auch mit den aller härtesten Sturköpfen fertig. Und genau deshalb bin ich auch an diesen wunderschönen Ort zurückgekehrt, der schon immer die widerstandsfähigsten Seelen beherbergt hat. Es freut mich, dass ich wieder für eine Weile hier Fuß fassen und in dieser Gegend auf die Jagd gehen kann.
In heller Vorfreude grinse ich in mich hinein und entblöße meine weißen Zähne. Ich habe keinerlei Bedenken, dass mir bei meinem Vorhaben irgendetwas nicht gelingen könnte. Denn es gibt eine Sache, die einfach eine unumstößliche Wahrheit ist:
"Thomas Crowen ist der erfolgreichste Faceless, den es jemals auf der Erde gegeben hat. Er scheitert nie. Und das wird auch für alle Zeit so bleiben."
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Faceless - Ewige Verdammnis
FantasyEin Verlangen, das dein Leben beherrscht. Ein Treffen, das dein Leben verändert. Ein Ende, das ein Anfang ist. ~ ~ ~ Thomas ist ein Dämon. Oder zumindest nennt er sich selbst so. Eigentlich gibt es keine genaue Bezeichnung für das, was er ist. Ande...