Ich stehe vor dem Gasthof Engel und schaue auf meine diamantenbesetzte Rolex hinunter. Es ist beinahe 19:30 Uhr. Noch eine halbe Stunde also, bis ich mich mit dem kleinen Rumpelstilzchen verabredet habe. Damit bleibt mir genug Zeit, um die Lage abzuchecken und ein paar Kleinigkeiten vorzubereiten. Ich habe bereits einiges geplant. Mal sehen, wie Amely darauf reagieren wird. Ich werde auf jeden Fall alle Register ziehen, um sie von mir zu überzeugen. Schließlich brauche ich wohl oder übel ihr Vertrauen. Das ist alles. Mehr will ich gar nicht.
Ich steige aus dem Auto, streiche mit den Fingern über den warmen Lack und schlage die Tür zu. Mit langen Schritten eile ich auf den Gasthof zu und bewundere das alte Fachwerkhaus. Es strahlt etwas Märchenhaftes aus, bei dem man sich gleich wohl fühlt. Zumindest geht das mir so.
Über dem Eingang ranken sich hübsche Reben, die bereits die ersten Früchte tragen. Die Fenster sind hell erleuchtet und neben der Tür befindet sich ein riesiger Engel aus Stein, mit einem Schwert in der Hand, das er drohend über dem Kopf schwingt. Er hat einen wilden Gesichtsausdruck und wirkt entschlossen. Das gefällt mir. Zwar sind Engel normalerweise nicht so ganz mein Ding, aber Luzifer war ja auch zu Beginn einer von ihnen. Von daher sind nicht alle so übel, wie man denkt. Zumindest laut den Geschichten. Natürlich gibt es Engel nicht wirklich, so weit ich das weiß.
Ich blicke erneut auf das schmucke Haus vor mir. Plötzlich kommt eine Erinnerung in mir hoch. Sie ist zuerst schwach, als würde ein Künstler eine Skizze mit einem Bleistift verfassen, wird dann jedoch immer deutlicher erkennbar, als würde er sie nun mit den verschiedensten Farbschattierungen ausmalen. Ich erinnere mich, dass das Haus vor mir bereits bei meinem letzten Besuch in Santaville existiert hat. Damals habe ich die Tochter des Wirts, Katharina, verführt und anschließend deren Seele geraubt. Dabei bin ich in solch einen Lichtrausch verfallen, dass ich ihren Bruder Johannes, ihre Mutter Franziska und die Küchenmagd Isabell gleich mit verspeist habe. Das war vielleicht ein Festmahl gewesen. Ganz nach meinem Geschmack.
Ich schwelge in Erinnerungen und denke an jene, vergangene Tage zurück. Es war einfach zu schön. Um meine Spuren zu verwischen, habe ich damals ein Feuer gelegt und so die Leichen vernichtet. Alle Bewohner waren entsetzt über dieses schreckliche Unglück, das beinahe eine ganze Familie ausgelöscht hat. Äußerst tragisch. Ich grinse boshaft in mich hinein und betrete den Gasthof. Vielleicht kann ich so etwas bald wiederholen. Amely, ihre Schwester und deren Eltern wären bestimmt ein passables Viergängemenü. Das kleine Rumpelstilzchen würde ich dann zum Nachtisch verspeisen.
Im Inneren des Gasthofes ist es kühl. Nach der immer noch andauernden Hitzewelle draußen, ist das eine angenehme Abwechslung. Trotzdem trage ich wie so oft meine Lederjacke, die ich mir nun über die Schultern streife und an den Haken einer Garderobe hänge, die neben einem großen Spiegel angebracht worden ist.
Ich finde ja, dass Lederjacken mir äußerst gut stehen. Sie haben einen gewissen Coolnessfaktor und unterstreichen meine breiten Schultern. Es ist für mich sowieso eigentlich gleichgültig, was ich trage, da wir Dämonen Wärme und Kälte zwar wahrnehmen können, dies uns jedoch nichts weiter anhaben kann. Wir zittern nicht bei Frost, schwitzen aber auch nicht bei hohen Temperaturen. Trotzdem gefällt mir das Gefühl der Kälte um einiges besser, als das der Wärme. Es ist irgendwie stechend, beißend und lässt den Körper protestierend kribbeln. Meines Erachtens fühlt sich das einfach richtig gut an.
Ich trete vor den Spiegel und zupfe mein Oberteil zurecht. Es ist ein schlichtes, schwarzes T-Shirt, das ich über meine dunkle Bluejeans gezogen habe. Das dürfte meiner Meinung nach für den gegebenen Anlass reichen. Es ist schließlich nur ein Essen unter Freunden. Wobei es das Wort Freunde auch nicht so ganz trifft. Es ist eher eine Kompromissbekanntschaft. Und dafür braucht man sich ja auch nicht allzu sehr herauszuputzen, einmal ganz abgesehen davon, dass mich das kleine Rumpelstilzchen sowieso genau so sieht, wie sie das will. Auf jeden Fall bin ich gespannt, wann ich endlich herausfinde, wen ich in ihren Augen verkörpere. Das wird sicherlich interessant.
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Faceless - Ewige Verdammnis
FantasyEin Verlangen, das dein Leben beherrscht. Ein Treffen, das dein Leben verändert. Ein Ende, das ein Anfang ist. ~ ~ ~ Thomas ist ein Dämon. Oder zumindest nennt er sich selbst so. Eigentlich gibt es keine genaue Bezeichnung für das, was er ist. Ande...