Nervenzusammenbruch

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Mit schnellen Schritten renne ich über den Gehsteig. Meine Füße trommeln einen gleichmäßigen Takt auf dem Asphalt, was im starken Kontrast zum ungleichmäßigen Klopfen meines Herzens steht. Ich schließe für einen kurzen Moment die Augen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Nur nicht nachdenken.

Immer wieder komme ich an diesen verfluchten Wesen vorbei, die ich so gerne alle tot sehen würde. Dabei achte ich nicht darauf, dass mir skeptische Blicke folgen. Weiter und weiter haste ich voran, ohne stehenzubleiben oder mich umzusehen. Die Straßenlaternen erhellen meinen Weg, trotzdem nehme ich alles nur verschwommen wahr. Es ist, als hätte sich ein Schleier vor meine Augen gelegt. Aber um ehrlich zu sein, ist mir das gerade recht. Ich will im Moment nichts und niemand sehen.

Ich schlage einen Haken nach rechts in ein großes Feld. Dabei scheuche ich ein paar Rehe auf, die wohl versucht haben hier zu schlafen. Sie verschwinden mit großen Sprüngen im Wald und ich folge ihnen. Die Wolken haben sich mittlerweile verzogen und nun kann man klar und deutlich den Mond erkennen, der heute beinahe voll ist. Wäre ich in Stimmung, ich würde nun wahrscheinlich einen Witz über ihn reißen, von der Art, dass der Alte gefälligst nicht ständig so viel saufen sollte. Aber da das im Moment nicht der Fall ist, ignoriere ich es einfach.

Die Schatten der Bäume fallen auf mich herab und der Waldboden ist weich und federnd. Endlich bin ich allein. Keine Menschenseele ist hier zu sehen. Ich verlangsame mein Tempo etwas und bleibe schließlich ganz stehen. Meine Gedanken sind wie leer gefegt. Da ist absolut nichts. Gar nichts. Nur eine große, allumfassende Leere.

Genau das hier ist der Grund, warum ich eigentlich niemanden an mich heranlasse. Man wird verwundbar. Warum um alles in der Welt habe ich also zugelassen, dass mir dieser Hund so verdammt wichtig wird? Wann ist es so weit gekommen?

Ich weiß es nicht, aber es war auf jeden Fall ein Fehler. Ein wirklich großer Fehler, den ich jetzt büßen muss. Ich hätte es besser wissen müssen. Seit der Sache von damals, habe ich nicht mehr zugelassen, dass mir jemand etwas bedeutet. Ich habe mir geschworen, niemals mehr diese Art der Schwäche zu zeigen. Nun weiß ich auch wieder warum. Und ich kann eines mit Gewissheit sagen:

Zeit heilt keine Wunden, man gewöhnt sich nur an den Schmerz.

Tja, das habe ich nun also davon. Wahrscheinlich hätte ich doch auf die mahnende Stimme in meinem Kopf hören sollen. Besser wäre es gewesen. Aber das ist nun auch schon zu spät. Batdog wird sterben. Ich konnte ihm nicht helfen. Es ist vorbei. Sie werden ihn eiskalt umbringen, ohne mit der Wimper zu zucken.

▪ ▪ ▪

Ich weiß nicht, wie ich nach Hause gekommen bin. Ich weiß nur, dass ich es auf jeden Fall irgendwie geschafft haben muss. Schließlich bin ich ja jetzt hier. Irgendwie... oder doch nicht? Naja, zumindest der Teil von mir, der nicht damit beschäftigt ist, um Batdog zu trauern. Der ist nämlich ganz woanders. Und ja, ich trauere um ihn. Ich gebe es offen zu. Was nützt es schon das hier abzustreiten. Er hat mir etwas bedeutet. Zum ersten Mal seit langem habe ich wieder eine gewisse Zuneigung gespürt, die über das Oberflächliche hinaus ging.

"Bist du nun zufrieden, du scheiß Moralapostel? Ich hoffe du hast das, was du wolltest!", zische ich, bekomme jedoch natürlich keine Antwort in der leeren Wohnung. Meine Stimme verhallt ungehört im Nichts. Nur die Stille mischt sich ein, leise und anklagend. Aber das stört mich relativ wenig. Ich zucke bloß gleichgültig mit den Schultern und widme mich erneut anderen Dingen.

Bei einer Bestandsaufnahme stelle ich fest, dass mein Auto nicht da ist, wo es hingehört. Also folgere ich mit scharfer Kombinationsgabe aus dieser Entdeckung, dass ich wohl den ganzen Weg bis zu meinem Haus zu Fuß zurückgelegt haben muss. Keine Ahnung, wie ich die Strecke in meinem derzeitigen Zustand bewältigt haben soll, aber was interessiert mich das. Es ist sowieso egal. Alles in meinem scheiß ewigen Leben ist mir gerade egal. Die Bürde eines Dämons eben, wenn er seine Depriphase hat, wovon tatsächlich auch wir Faceless nicht verschont bleiben. Und für uns nimmt das Ganze auch völlig andere Dimensionen an, als für die Menschen. Denn bei uns gibt es keinen Schlussstrich, der irgendwann ein Ende und damit eine gewisse Erlösung in Aussicht stellt. Außer uns wird von einem anderen Faceless das Leben genommen, aber das trauen sich nur die Wenigsten. Denn sollte jemand wirklich so verzweifelt sein und diesen Schritt wagen, steht dem Ermordeten das große, allumfassende Nichts bevor. Wenigstens behaupten das die Schriften. Ob es nun stimmt oder nicht, kann ich natürlich nicht mit Gewissheit sagen. Aber es soll angeblich grauenvoll sein.

Hier auf der Erde kann man seinen Kummer ja noch verdrängen, ersäufen oder sonst was damit anstellen. Dort, in der Einsamkeit, muss man sich diesem jedoch rund um die Uhr stellen. Da bleibe ich dann doch lieber bei dem Mist hier. Das ist eindeutig das kleinere Übel von beidem und ich weiß außerdem genau woran ich bin.

Selbstmord funktioniert bei uns Faceless nämlich leider nicht. Das habe ich damals, bei meinem ersten und letzten "Zusammenbruch" oder wie auch immer man das nennen will, schon oft genug getestet. Jedoch hat es keine Wirkung gezeigt, wie man unschwer erkennen kann. Ich bin noch immer hier und das durchaus quicklebendig. Genau das ist nunmal der Preis für unsere ewige Existenz. Wir altern ab einem gewissen Punkt nicht mehr, uns bleibt es verwehrt irgendwann grau und runzlig zu werden und natürlich auch eines Tages an einem natürlichen Tod zu sterben. Scheiß ewige Verdammnis! Gerade kotzt das Ganze mich so dermaßen an.

Ich schiebe eine Fertigpizza in den Ofen und seufze. Alles hat eben seine Licht- und Schattenseiten im Leben und das hier ist gerade absolut gleißend heller Sonnenschein. Wie ich es verabscheue, diesen ganzen Scheiß immer und immer wieder neu durchleben zu müssen. Ab und zu beneide ich die Menschen in dieser Hinsicht ja schon ein wenig. Aber nur in meinen schwachen Momenten. Wie jetzt gerade. Denn sie haben ein Ziel, auf das sie hinarbeiten können. Für sie hat die Zeit etwas Magisches, Wertvolles an sich. Für uns dagegen gibt es nur die Ewigkeit. Ein nie endender Strom an Ereignissen, die sich früher oder später zu wiederholen beginnen.

"Hör auf zu jammern, wie ein kleines Mädchen! Und das alles nur wegen einem beschissenen Hund. Das hört sich ja beinahe so an, wie damals bei Rory. Ich dachte du hast gesagt so etwas würde nie wieder vorkommen?", beschleichen mich ungebetene Gedanken.

Ich zucke bei der Erwähnung dieses einen Namens heftig zusammen und schlucke schwer. Es ist, als hätte mir jemand seine Faust mit voller Wucht in den Magen gerammt. Nein. Ich will nicht daran denken. Warum ist diese verdammte Erinnerung plötzlich wieder da? Sie war doch so lange weg, gut versteckt an einem sicheren Ort. Warum jetzt? Es ist doch schon schwer genug die Sache mit Batdog auszuhalten und nun auch noch das. Wie soll ich das bitte ertragen?

Es ist Ewigkeiten her, dass ich das letzte Mal an... an ihn gedacht habe. Mindestens 2.000 Jahre. Und ich muss gestehen, dass es stimmt, was meine innere Stimme behauptet. Nach dem damaligen Vorfall mit Ro... ähm... mit ihm... habe ich mir geschworen nie wieder solche Gefühle zuzulassen. Ich habe mir vorgenommen, niemals in meinem ganzen Leben wieder jemandem so viel Bedeutung einzuräumen, wie ihm. Nun habe ich jedoch meinen eigenen Schwur gebrochen und man sieht ja, wo es mich hingeführt hat. An den Rande eines Nervenzusammenbruchs.

"Nenn' es lieber Kontrollverlust der übelsten Sorte. Aber hey! Du weißt ja, was zu tun ist. Damals hast du es schließlich auch hinbekommen. Und dieses Mal ziehst du das Ganze gefälligst bis zur Unendlichkeit durch", schlägt meine innere Stimme etwas versöhnlicher vor und ich muss sagen, dass ich tatsächlich mehr und mehr Gefallen an dieser Idee finde. Ja, ich weiß, was ich zu tun habe. Das Gleiche, wie damals nach... nach dem Vorfall. Und ich werde es dieses Mal besser machen. Noch einmal passiert mir das hier garantiert nicht mehr. Noch einmal lasse ich das nicht zu. Da bin ich mir hundertprozentig sicher.

Der Küchenwecker klingelt und ich ziehe die Fertigpizza aus dem Ofen hervor. Es ist meine Lieblingssorte. Pizza mit Shrimps, Krebsfleisch, Miesmuscheln und extra viel Käse. Langsam und mechanisch beginne ich zu essen. Dabei stelle ich fest, dass alles einfach nur nach Pappe schmeckt. Trotzdem schiebe ich Gabel um Gabel tapfer in den Mund und überlege mir dabei mein weiteres Vorgehen. Denn genau so, wie nach der Sache von damals, werde ich nun nach vorne schauen müssen und nie mehr zurück. Es hat schon einmal funktioniert, also warum sollte es heute nicht klappen? Ich muss es einfach nur wirklich wollen. Und ja, ich will es einfach so sehr! Ich möchte alles vergessen, meine Erinnerungen wegsperren. Für immer.

Faceless - Ewige Verdammnis Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt