Keine halben Sachen

83 20 0
                                    

Mit schnellen Schritten eile ich zu dem Spiegel hinüber, in dem ich mich vorhin betrachtet habe, reiße ihn aus der Halterung, die ihn an der Wand hält und schmettere ihn mit voller Wucht zu Boden. Ein lautes Scheppern und Klirren ist zu vernehmen, bevor er in tausend Stücke zerbricht. Kleinste Splitter verteilen sich im ganzen Raum, schmücken nun jede Ecke und bleiben als kleine, spitze und kantige Erinnerung meines Wutausbruchs dort liegen. Genau so spitz und kantig, wie das Stechen in meiner Brust, wenn ich an Amely und Nicolas denke.

Ich heule erneut vor Hass und Verzweiflung auf und stapfe mit entschlossenen Schritten aus der Toilette. Denn nun weiß ich plötzlich ganz genau, was ich zu tun habe. Ich sehe keinen anderen Ausweg mehr. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit. Ich muss Amely beseitigen, bevor sie mich noch ganz um den Verstand bringt und schlussendlich vernichtet. Schließlich geht es hier um meine Existenz als Faceless und jeder, der diese bedroht, muss aus dem Weg geschafft werden. Da gibt es keine Ausnahmen. Selbst für ein dahergelaufenes Menschenmädchen nicht, das in mir Gefühle hervorruft, die es eigentlich gar nicht geben dürfte.

Auf den dunklen, leeren Straßen, zurück zu der Wohnung von Amelys Wohnung, grüble ich weiter über mein Vorhaben nach. Es ist ja nicht so, dass das kleine Rumpelstilzchen mir nichts bedeuten würde. Das tut sie, egal wie gerne ich es auch leugnen würde. Dennoch kann ich nicht zulassen, dass sie mir mein weiteres Leben versaut. Ich habe noch die ganze Ewigkeit vor mir und die lasse ich mir gewiss nicht von einer nichtsnutzigen Göre nehmen, sei sie auch Amely Heiß. So weit ist es dann doch noch nicht gekommen, dass ich meinen Untergang kampflos hinnehme. Ich muss wenigstens versuchen, die Sache mit meinem menschlichen Schützling zu unterbinden.

Für Amely werde ich es großzügigerweise auch schmerzlos und schnell über die Runden bringen. Sie wird nichts von all dem mitbekommen. Ich werde sie im Schlaf überraschen und das war es dann. Sie wird friedlich aus dieser Welt gehen. Das bin ich ihr irgendwie schuldig, keine Ahnung warum. Womöglich, weil noch nie zuvor jemand solche Gefühle in mir hervorgerufen hat. Vielleicht aber auch einfach nur aus dem Grund, weil ich in letzter Zeit nicht mehr ich selbst bin. Wer kann das schon so genau sagen.

Ich trommle zu dem Lied "Don't look back in anger" von Oasis im Takt mit meinen Fingern auf das Lenkrad. Nein, ich werde nicht voll Zorn zurückschauen. Ich werde nämlich überhaupt nicht mehr zurücksehen. Noch heute werde ich dieses Kapitel meines Lebens beenden und anschließend für immer begraben. Es ist das Beste so. Für alle Beteiligten. Aus mir und Amely wäre sowieso nie im Leben etwas geworden. Wir stammen aus zwei komplett unterschiedlichen Welten. Sie ist ein Mensch und ich bin ein Faceless. Diese Freundschaft ist schon jetzt zum Scheitern verurteilt, selbst ohne den Bastard Nicolas an ihrer Seite, der ständig dazwischenfunken muss. So eine Beziehung verstößt gegen jegliche Naturgesetze dieser Welt und ich werde garantiert nicht so blöd sein und den Zorn von Mutter Natur auf mich ziehen.

"Und trotzdem hast du dich in sie verliebt", merkt meine innere Stimme hämisch an. Hm... naja, Liebe ist meiner Meinung nach ein zu großes Wort. Mittlerweile bin ich mir da auch gar nicht mehr so sicher. Vielleicht mag ich sie ja auch einfach nur. Vielleicht imponiert mir ganz einfach die Tatsache, dass sie sich mir bisher als Einzige widersetzt hat und das ist auch schon die ganze Wahrheit. Schließlich habe ich keine Ahnung, wie es sich anfühlt, verliebt zu sein, geschweige denn, jemanden wirklich zu lieben. Womöglich war es auch einfach nur eine vorübergehende Schwärmerei? Ein ungeplanter Gefühlsausbruch, wie bei Menschen, die mit den Jahren ihre Midlife Crisis bekommen?

Allmählich drossle ich das Tempo meines Wagens und halte schließlich ein paar Straßen weiter, in der Nähe von Amelys Wohnung. Dann schalte ich den Motor aus und bleibe erst einmal regungslos sitzen. Als die Lichter meines Wagens erlöschen, ist es mit einem Mal stockdunkel. Die Straßenlaternen brennen um diese Uhrzeit bereits seit einigen Stunden nicht mehr. Schließlich will man ja nicht unnötig Strom verschwenden. Gut für mich. So werde ich es leichter haben, ins Haus zu gelangen, ohne entdeckt zu werden.

Faceless - Ewige Verdammnis Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt