Gestörte Störungen

90 22 8
                                    

Ganz langsam, wie in Trance, beuge ich mich nach vorne. Ich kann nichts dagegen tun. Ich muss es ausprobieren. Amelys Atem trifft auf mein Gesicht, kitzelt meine Nase und zaubert mir ein kleines, verschmitztes Lächeln auf die Lippen. Es ist nicht dieses großspurige Grinsen, das immer dann auftaucht, wenn ich eines meiner Opfer abschleppe. Es ist viel ehrlicher.

Unwillkürlich tasten meine Finger nach Amelys Hand. Als sie diese gefunden haben, umschließen sie sie fest. Ihre Haut fühlt sich warm und weich an. Nicht so unangenehm, wie ich es zuvor immer angenommen habe.

In Amelys Augen kann ich kurz so etwas, wie Unsicherheit ausmachen, als würde sie sich fragen, was sie hier gerade tut und ob sie nicht doch eher einen Rückzieher machen sollte. Dann erwidert sie jedoch meine Berührung und kommt ebenfalls ein Stück näher, ein Strahlen auf dem Gesicht, was selbst ihre Augen erreicht. Das sieht so wundervoll aus.

Ich schließe unwillkürlich die Augen und mein ganzer Körper beginnt zu kribbeln. Das kleine Rumpelstilzchen hält still, als würde es nicht einmal zu atmen wagen. Ich warte gespannt auf das, was nun gleich folgen wird und die Spannung, die sich in mir aufgebaut hat, scheint mich fast zu zerreißen.

Ein lautes Klingeln durchdringt die Stille und lässt uns beide erschrocken zusammenfahren. Wir springen wie von der Tarantel gestochen auseinander und starren uns entsetzt an. Was haben wir da gerade getan?!

Amely wendet beschämt den Blick ab und ich sehe ihr an, wie geschockt sie ist. Ist sie froh, dass wir unterbrochen wurden? Bin ich erleichtert? Eigentlich schon, es war besser so. Das Ganze hat uns vor einem großen Fehler bewahrt. Aber warum fühlt es sich dann so falsch an? Ich kratze mich verwirrt am Hinterkopf und schiele aus dem Augenwinkel immer wieder zu Amely hinüber.

"Das war ein... uh... ein Fehler. Äh... du bist überhaupt nicht mein Typ... und... außerdem stinkst du nach Zigaretten und... es passt einfach nicht", stammelt Amely. Erneut klingelt es an der Tür und sie springt hastig von der Couch auf. Plötzlich hat sie es ganz eilig von hier zu verschwinden.

"Mhm", nicke ich zustimmend", ich stehe auch eher auf Frauen, wie deine Schwester."

"Ja, ich weiß schon, dass du auf kleine Püppchen stehst", macht Amely eine wegwerfende Handbewegung, "mehr als Bekannte wird aus uns nie werden. Das würde nicht funktionieren."

Bei dem Wort "Bekannte" durchzuckt mich ein kleiner Stich. Ich dachte, wir seien mittlerweile bei Freundschaft angelangt. Aber wie es scheint, geht es mit dem kleinen Rumpelstilzchen immer einen Schritt voran und dann wieder zwei zurück.

Ein erneutes, ungeduldiges Klingeln, veranlasst Amely endgültig dazu, den Raum zu verlassen. Ich atme tief durch und setze mich aufrecht hin. Von draußen kann ich hören, wie Amely die Türe öffnet und jemanden freudig und erleichtert begrüßt. Als ich dann auch noch verstehe, wer uns da gerade mit seiner Anwesenheit beehrt, wäre ich gerne aus dem nächstbesten Fenster gesprungen und hätte die komplette Nachbarschaft in Schutt und Asche gelegt, um meiner Aggression irgendwie Luft zu machen.

Ich balle meine Hände zu Fäusten und unterdrücke ein finsteres Knurren. Amely verhält sich währenddessen so normal, als wäre nichts gewesen. Ich kann ihr Lachen hören, als sie denjenigen, der vor der Tür steht, hereinbittet und ihn freudig umarmt. Ist da bei ihr wirklich nichts gewesen? Warum nur ist sie immun gegenüber meinem Charme? Liegt es wirklich daran, dass ich sie unter meinen Schutz genommen habe? Ich weiß es nicht. In meinem Kopf herrscht das absolute Chaos vor. Und dann betritt diese verhasste Person auch noch neben Amely den Raum und legt meinem Opfer wie selbstverständlich die Hand auf die Schulter. Dabei erscheint ein glückliches Lächeln auf den Lippen des kleinen Rumpelstilzchens. Die Lippen, die ich eben beinahe geküsst hätte. Ich schnaube verächtlich auf.

Amely hingegen bietet dem Vollidioten nun auch noch den Platz neben mir an und lässt sich dann auf der anderen Seite von ihm nieder, darauf bedacht so viel Platz wie möglich zwischen uns zu bringen.

Kennt ihr diesen einen Moment? Diesen Augenblick, der einen einfach nur rot sehen lässt und in dem ihr am liebsten auf brutalste Weise jemanden umbringen möchtet? Nein? Dann seid froh. Ich verspüre nämlich gerade das unsagbar große Verlangen, dem Zwerg, der da neben dem kleinen Rumpelstilzchen sitzt, an die Gurgel zu springen. Ich würde so gerne meine Finger um seinen schmächtigen Hals legen und ihn schütteln, bis schlussendlich sein Genick bricht. Aber nein, Amely muss diesen Typen ja unbedingt zum Bleiben auffordern und ihm auch noch eine Tasse Kaffee anbieten. Es scheint sie dabei nicht im Geringsten zu stören, dass er uns bei... äh... bei... ähm... ja... bei was eigentlich unterbrochen hat? Gute Frage. Ich weiß doch selbst nicht, wie ich beschreiben soll, was das da gerade eben zwischen uns gewesen ist. Da war irgendetwas, aber was, das weiß ich auch nicht so genau.

Eines ist dabei jedoch schonmal völlig klar. Der Mistkerl da neben mir hat uns davon abgehalten, ES zu Ende zu bringen. Was auch immer das jetzt heißen mag. Aber das ist auch egal. Er hat es auf jeden Fall getan und deshalb hasse ich ihn nur noch um so mehr. Wobei ich ihn eigentlich schon vom ersten Moment an gehasst habe. Aber auch das ist nicht ganz richtig. Hass ist die größte Untertreibung des Jahrhunderts.

"Hörst du dir eigentlich selbst zu? Drehst du jetzt völlig ab? Bei deinem Gelaber blickt doch keine Sau mehr durch", schnauzt mich meine innere Stimme mürrisch an.

Nein, um ehrlich zu sein eigentlich nicht. Ich kann mir ja schlecht selbst zuhören, wenn ich rede. Das ist im Moment gerade insofern schon verrückt, als dass diese zwei Vorgänge einfach nicht gleichzeitig vonstatten gehen wollen. Ich bin gerade nicht wirklich Multitaskingfähig, was die Sache ziemlich schwer macht. Um ehrlich zu sein bin ich schon froh, wenn ich überhaupt noch irgendetwas mitbekomme. Ich habe auch absolut keinen blassen Schimmer, was dieser Kerl und Amely da gerade bereden. Zwar sehe ich, dass sich ihre Lippen bewegen, aber ich verstehe nicht, was sie sagen.

So etwas ist bei mir bisher noch nie vorgekommen. Oder doch, wenn ich es mir recht überlege... damals, als ich das erste Mal LSD genommen habe, ist es mir ähnlich ergangen. Da war ich für kurze Zeit auch völlig weggetreten und nicht ansprechbar. Ich hatte sogar gedacht ich sei ein Löwe und war brüllend durch die leerstehende Lagerhalle gerannt, in der ich mich mit ein paar zwielichtigen Typen getroffen hatte. Ja, das sind noch Zeiten gewesen. Aber das hier ist etwas ganz anderes. Schließlich habe ich überhaupt nichts eingeworfen. Und daher bereitet mir die Sache hier auch eindeutig mehr Kopfzerbrechen, als die Geschichte von damals. Um einiges mehr.

Ich habe ein ziemlich flaues Gefühl in der Magengegend. Das hier ist nicht normal. Ganz und gar nicht. Nichts ist mehr normal. Vor ein paar Wochen war ich noch guter Dinge, dass ich bald den Fang meines Lebens mache und nun bin ich nur noch ein Schatten meiner selbst. Um ehrlich zu sein, bin ich genau zu der Person geworden, die ich immer verachtet habe. Eine Person, die ihr Leben nicht mehr im Griff hat. Nun stecke ich also selbst bis zum Hals in der Scheiße. Erbärmlich! Wirklich bemitleidenswert erbärmlich. Aber ich kann im Moment nichts dagegen tun. Mein Leben entgleitet mir mehr und mehr.

Faceless - Ewige Verdammnis Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt