Menschlicher Schützling

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"Was habe ich heute an? Wie sehe ich aus? Also, wie würdest du mich beschreiben?"

Das kleine Rumpelstilzchen starrt mich entgeistert an. Es macht beinahe den Anschein, als fürchte sie um meine geistige Zurechnungsfähigkeit, was ich ihr nicht wirklich verübeln kann. Schließlich ist die Frage tatsächlich etwas seltsam. Aber ich muss sie dennoch stellen. Es ist wichtig für mich. Sehr wichtig sogar.

"Ähm... ist das dein Ernst? Das soll ich dir ehrlich beantworten? Ist das vielleicht eine Fangfrage oder so?"

Verunsichert streicht sie sich eine ihrer feuerroten, widerspenstigen Haarsträhnen hinter die Ohren.

"Ja, genau das will ich wissen. Und nein, keine Angst. Es ist keine Fangfrage. Mich interessiert einfach nur, wie du mein Outfit, mein Aussehen und mich als Ganzes so findest", bestätige ich ihr, auch wenn es sich selbst in meinen Ohren dämlich anhört.

Amely scheint der Sache zwar immer noch nicht ganz zu trauen und es eher als einen Scherz zu sehen, antwortet jedoch trotzdem:

"Joa... also dein Outfit ist ganz in Ordnung. Die Jeans sind lässig, das Hemd steht dir und der Rest geht auch. Ich hätte das Hemd an deiner Stelle zwar zugeknöpft, aber vielleicht wolltest du damit ja auch das bezaubernde T-Shirt zur Geltung bringen. Dieses schlichte Weiß ist eindeutig etwas Besonderes. Solltest du öfter tragen."

Ich höre gespannt zu, wobei mir mit jeder weiteren Minute etwas mulmiger zu Mute wird und ich daher die Ironie in ihrer Stimme einfach überhöre.

"Zu deinem Aussehen im Allgemeinen, naja. Ich will jetzt nicht sagen, dass du hässlich bist, aber du hast so das typische Frauenaufreißeraussehen. Etwas kürzere, schwarze Haare, sportliche Figur, gut gebaut, babyblaue Augen. Alles scheint irgendwie perfekt zu sein, bis man bemerkt, was für ein Arsch du in Wahrheit bist. Das ist so langweilig gewöhnlich, dass man es an jeder Straßenecke findet. Gähn."

Ich schnappe hörbar nach Luft, wobei es nicht die Beleidigung ist, die mich an ihren Worten stört, sondern das, was sie beschrieben hat.

"Nun zu dem letzten Punkt deiner Frage, wie ich dich als Ganzes sehe. Tja, das ist nicht gerade leicht zu beantworten. Manchmal kannst du ja ganz in Ordnung sein, zum Beispiel, wenn du mit Batdog zusammen bist. Aber sonst kann man durchaus gut und gerne auf deine Anwesenheit verzichten. Jup, genau. Habe ich deine Frage damit zu deiner Zufriedenheit beantwortet?"

Erwartungsvoll sieht sie mich an, wobei noch immer etwas Schokolade an ihren Lippen hängt. Wie hypnotisiert starre ich darauf und habe keinen Plan, was ich als nächstes tun soll. Denn hier habe ich eindeutig und endgültig den Beweis. Das kleine Rumpelstilzchen sieht mich so, wie ich bin. Genau so, wie ich mich eben auch sehe. Ach du heilige Scheiße!

"Hallo? Erde an Thomas? Bist du noch anwesend?", bringt mich die Stimme des kleinen Rumpelstilzchens zurück ins Hier und Jetzt, "alles okay bei dir? Du bist plötzlich so blass um die Nase geworden."

Für einen kurzen Augenblick kann ich so etwas wie Genugtuung und Belustigung in ihrem Blick ausmachen, doch es ist so schnell wieder verschwunden, dass ich es mir wohl eingebildet haben muss.

"Ähm, ja. Klar. Ich habe gerade nur nachgedacht", entgegne ich lahm. Das alles hier schockt mich gerade wirklich. Es ist einfach zu viel auf einmal. Ich kann mich nur auf eine Sache konzentrieren und diese lautet:

"Hilfe, ich habe einen Schützling!"

"Du bist vielleicht komisch", kommentiert das kleine Rumpelstilzchen mein Verhalten und kratzt sich an der Nase, "und jetzt darf ich dir eine Frage stellen. So lautet unsere Abmachung."

Ich zucke nur mit den Schultern. Es ist mir egal. Soll sie doch fragen, was sie will. Im Moment könnte eine Bombe neben mir in die Luft gehen und ich würde es höchst wahrscheinlich nicht einmal mitbekommen.

"Schieß los", bringe ich daher teilnahmslos hervor.

Nachdenklich kaut Amely auf ihrer Unterlippe herum, bis sich ihr Gesicht plötzlich aufhellt:

"Ah! Da gibt es tatsächlich etwas, was mich schon von Anfang an interessiert hat. Was ist dein größter Traum? Wie ich sehe hast du ja schon alles, was man sich mit Geld leisten kann. Das hatten wir daheim auch immer. Aber was willst du wirklich im Leben erreichen?"

Verblüfft schaue ich nun doch von meinem Brownie auf, der noch immer unberührt vor mir liegt. Damit habe ich absolut nicht gerechnet. Diese Frage hat mir, um ehrlich zu sein, noch nie irgendjemand gestellt. Etwas überfordert öffne und schließe ich meinen Mund, um danach erneut anzusetzen:

"Ehrlich gesagt habe ich mir darüber nie wirklich Gedanken gemacht. Ich lebe irgendwie von Tag zu Tag. Die Lichtblicke sind meine Aufträge, die ich zu erledigen habe. Dabei fühle ich mich wohl. Ich hoffe, dass ich noch viele erfolgreich durchführen kann. Sonst gibt es aber eigentlich nichts, was ich mir wünsche."

Ein wissendes, etwas melancholisches Lächeln erscheint auf Amelys Lippen. Es ist, als würde sie mich voll und ganz verstehen. Dies lässt mich auf einmal etwas sehr Seltsames tun. Ich beuge mich ganz langsam nach vorne über den Tisch, strecke meine Hand nach dem Gesicht des kleinen Rumpelstilzchens aus und wische ihr vorsichtig mit dem Daumen die restliche Schokolade von den Lippen. Verwirrt fällt mir dabei auf, dass diese viel weicher sind, als ich es vermutet habe. Ich weiß zwar nicht, warum ich das hier gerade tue, aber kann auch nichts dagegen tun. Es passiert von selbst. Mit einer gewissen Faszination mustere ich das kleine Rumpelstilzchen. Warum um alles in der Welt soll ich sie zu meinem Schützling gemacht haben?

Wie erstarrt hält Amely den Atem an und ihr Blick bohrt sich verwirrt in meinen. Ihr Mund steht dabei leicht offen, als würde sie etwas sagen wollen und die Röte von eben schleicht sich auf ihre Wangen zurück. Dadurch wirkt sie viel lebendiger. Als würde sie erst jetzt wirklich zum Leben erwachen.

"Was zur Hölle...?!", bricht es plötzlich entsetzt aus ihr hervor und ein kleines Beben läuft durch ihren Körper hindurch, was sie verzweifelt zu verbergen versucht, ihr aber nicht gelingt.

"Äh... du... du hattest da... äh... etwas Schokolade", erkläre ich stammelnd und bringe schnell wieder einen gewissen Sicherheitsabstand zwischen uns. Was habe ich mir nur dabei gedacht diese Zicke freiwillig zu berühren? Was sollte das?

"Ja, ... ähm... danke. Ich muss jetzt dann aber auch los. Habe daheim noch einiges zu tun. Danke für deine Gastfreundschaft und das leckere Essen. Wir sehen uns bestimmt bald im Hundehimmel", beeilt sich Amely hervorzubringen und steht hastig auf.

Ich tue es ihr gleich und schaue perplex zu, wie sie in Richtung Tür eilt, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.

"Oh! Okay, warte kurz. Ich begleite dich noch bis zur Haustür", rufe ich hinter ihr her und folge ihr in den Flur.

Das kleine Rumpelstilzchen stört das jedoch kein bisschen. Sie denkt gar nicht daran keine stehenzubleiben. Beinahe wäre sie sogar ohne Jacke nach Hause gesprintet, wenn ich ihr nicht noch schnell hinterher gerannt wäre und ihr diese gebracht hätte. Verlegen bedankt sie sich daraufhin erneut bei mir, wenn auch etwas widerwillig und ist dann auch schon hinter der nächsten Ecke verschwunden.

Was ist denn das jetzt gerade gewesen? Ich werde aus diesem Mädchen einfach nicht schlau. Sie ist ein Buch mit sieben Siegeln für mich. Und dabei will ich eigentlich nur ihr Vertrauen gewinnen. Zumindest habe ich das bis vor ein paar Minuten noch angenommen. Jetzt bin ich mir da auf einmal gar nicht mehr so sicher. Denn die Tatsache, dass ich einen menschlichen Schützling habe, wirft alles über den Haufen, was ich je von mir selbst geglaubt habe. Das kleine Rumpelstilzchen steht unter meinem Schutz! Das erscheint mir so verdammt unwirklich. Ich bin einfach nur noch verwirrt.

Faceless - Ewige Verdammnis Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt